"Die Mauer ... wird in fünfzig und auch in 100 Jahren
noch bestehen bleiben", erklärt Erich Honecker noch Ende
Januar 1989. Tatsächlich erscheint die DDR den meisten
Zeitgenossen zu dieser Zeit stabil, obwohl das aufziehende
wirtschaftliche Desaster am Zustand der Industrieanlagen, der
Bausubstanz der Altstädte, der Straßen sowie der Luft- und
Wasserverschmutzung erkennbar wird.
Doch der Zwang zu Veränderungen in der DDR kommt von außen.
Die Sowjetunion steckt in einer tiefen ökonomischen und
politischen Krise.
Um das Wettrüsten zu beenden und damit ihre Militärausgaben
zu begrenzen, unterschreiben die Moskauer Führung und alle ihre
Verbündeten im Januar 1989 das Wiener KSZE-Abkommen. Darin
verpflichten sie sich, das Recht für alle Bürger zu
garantieren, ausreisen und wieder zurückkehren zu dürfen.
Am 2. Mai 1989 bauen ungarische Grenzsoldaten den
Stacheldrahtzaun zu Österreich ab. In der DDR wird auf ersten
Demonstrationen das Recht auf Ausreise gefordert: Über 100.000
Menschen warten auf die Genehmigung ihres Ausreiseantrags. Doch
die DDR-Regierung bleibt hart.
Zu Beginn der Sommerferien ziehen viele ausreisewillige DDR-Bürger
die Konsequenz: Sie besetzen die Ständige Vertretung der
Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin und die bundesdeutschen
Botschaften in Warschau, Prag und Budapest. Tausende meist junge
Leute fahren nach Ungarn mit dem Ziel, über Österreich in die
Bundesrepublik auszureisen.
Am 10. September öffnet die ungarische Regierung die Grenze zu
Österreich auch für DDR-Bürger. Die Mauer bröckelt, doch
noch findet die SED Unterstützung in Prag.
DDR-Bürgern wird der Grenzübertritt von der
Tschechoslowakei nach Ungarn verwehrt. Ende September besetzen
über 10.000 DDR-Bürger die Botschaft der Bundesrepublik in
Prag, um ihre Ausreise zu erzwingen. Am 30. September gibt
Honecker nach und läßt die Flüchtlinge ziehen. Bundesaußenminister
Hans-Dietrich Genscher verkündet die Nachricht vom Balkon der
Prager Botschaft aus.
Die DDR-Regierung zeigt weiter Härte und läßt die Grenze
zur CSSR schließen. Gleichzeitig befiehlt Honecker, die immer
zahlreicher stattfindenden Demonstrationen "im Keime zu
ersticken".
Sein Plan, in Leipzig Panzer "zur Einschüchterung"
auffahren zu lassen, wird jedoch von führenden Militärs
verworfen. Am 17. Oktober wird Erich Honecker im SED-Politbüro
gestürzt. Sein Nachfolger Egon Krenz kündigt eine
"Wende" an, doch die Kundgebungen gegen die SED
breiten sich nun in der gesamten DDR aus. Hunderttausende
Menschen fordern freie Wahlen, die Zulassung von
Oppositionsgruppen und Reisefreiheit. Und am 9. November fällt
schließlich die Mauer...
Die Chronik des Jahres 1989 zeichnet die Stationen der Auflösung,
von Ausreise und Protest nach.
Im Mittelpunkt stehen die dramatischen Ereignisse vor und
nach dem Mauerfall - rekonstruiert und illustriert mit Hilfe von
Dokumenten, Film- und Tonmaterial, Fotos und
Zeitzeugen-Interviews. Spitzenpolitiker wie George Bush und
Michail Gorbatschow, Helmut Kohl und Egon Krenz kommen ebenso zu
Wort wie Generäle und Offiziere des Ministeriums für
Staatssicherheit und der Nationalen Volksarmee sowie ganz
normale Berliner, die die Mauer zu Fall brachten.
Januar 1989
|
3. Januar: Nach Angaben des
Bundesinnenministeriums registrierten die Aufnahmelager in
der Bundesrepublik im Jahr 1988 mit 39.832 doppelt so
viele Übersiedler aus der DDR wie im Vorjahr (1987:
18.985). Auch die Zahl der deutschstämmigen Aussiedler
vor allem aus Polen, der Sowjetunion und Rumänien sowie
anderen Staaten schoss 1988 mit 202.673 gegenüber dem
Vorjahr in die Höhe (1987: 78.523). Die Zahl der
Asylbewerber stieg um 80 Prozent auf 103.076 an (1987:
57.379). |
4. Januar: In einer Umfrage des RIAS auf dem
Alexanderplatz äußern DDR-Bürger die Hoffnungen, die sie auf
den Reformprozess in der Sowjetunion setzen. Ein weiterer Wunsch
sind verbesserte Reisemöglichkeiten.
11. Januar: Gegen die Zusicherung von
Straffreiheit durch DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel verlassen
mehr als 20 ausreisewillige DDR-Bürger die Ständige Vertretung
der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Sie hatten sich dort mehrere
Tage aufgehalten, um ihre Ausreise zu erzwingen. Inoffiziell ist
ihnen durch Rechtsanwalt Vogel das Versprechen gegeben worden:
"Ihre Angelegenheit kommt innerhalb dieses Jahres zu einem
guten Ende." Bereits Ende Januar treffen die meisten im
Notaufnahmelager Gießen ein.
15. Januar: Unterzeichnung des
KSZE-Folgeabkommens in Wien. Darin geht auch die DDR unter
anderem nicht nur die Verpflichtung ein, das Recht eines jeden
"auf Ausreise aus jedem Land, darunter aus seinem eigenen,
und auf Rückkehr in sein Land uneingeschränkt" zu achten,
sondern dieses Recht auch gesetzlich zu garantieren und die
Einhaltung dieser Verpflichtung beobachten zu lassen. Der
sowjetische Botschafter in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow,
gibt später als Äußerung Honeckers wieder: "Wir geben
Weisung, dieses Dokument zu unterzeichnen, werden es aber nicht
erfüllen."
15. Januar: Massendemonstration in Prag aus
Anlass des 20. Jahrestages der Selbstverbrennung von Jan Pallach.
Die Polizei geht brutal gegen die Demonstranten vor.
18. Januar: Auf einer Tagung des Thomas-Müntzer-Komitees
kündigt SED-Generalsekretär Erich Honecker öffentlich an, die
Mauer werde "in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen,
wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind."
Honecker weiter: "Das ist schon erforderlich, um unsere
Republik vor Räubern zu schützen, ganz zu schweigen vor denen,
die gern bereit sind, Stabilität und Frieden in Europa zu stören.
Die Sicherung der Grenze ist das souveräne Recht eines jeden
Staates, und so auch unserer DDR."
20. Januar: Der bisherige amerikanische
Vizepräsident George Bush wird als Nachfolger von Ronald Reagan
als 41. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt.
- Im
Januar gelingt 4627 Bürgern die Flucht in den Westen; 3741
Menschen dürfen die DDR mit Genehmigung verlassen
-
-
Februar 1989
3. Februar: Der schleswig-holsteinische
Ministerpräsident Björn Engholm hält sich vom 31. Januar
bis zum 3. Februar in der DDR auf. Im Mittelpunkt eines
Gesprächs mit Erich Honecker stehen neben den
internationalen Beziehungen die Möglichkeiten der
Zusammenarbeit zwischen der DDR und Schleswig-Holstein.
Honecker hebt hervor, dass sich beide deutsche Staaten von
der Anerkennung der Realitäten, der Achtung der Souveränität,
der Nichteinmischung und der Berücksichtigung legitimer
gegenseitiger Interessen leiten lassen sollten. In diesem
Sinne sollten strittige Fragen wie die Respektierung der
DDR-Staatsbürgerschaft, die Festlegung der Elbgrenze sowie
die Existenz der Erfassungsstelle Salzgitter gelöst werden.
Honecker und Engholm sprechen sich für die Aufnahme
"normaler Beziehungen" zwischen der Volkskammer
und dem Deutschen Bundestag aus. Beide bezeichnen einen
Ausbau der Zusammenarbeit zwischen der DDR und
Schleswig-Holstein als wünschenswert. Engholms Vorschlag,
die Stadt Kiel in den grenznahen Verkehr einzubeziehen, wird
seitens der DDR positiv aufgenommen.
5. Februar: Gegen 21.00 Uhr nähern sich
der 20jährige Chris Gueffroy und der 21jährige Christian
Gaudian im Ost-Berliner Stadtbezirk Treptow der Grenze zu
Neukölln, die an dieser Stelle der Teltowkanal bildet.
Chris Gueffroy, der im Mai 1989 zur Armee eingezogen werden
soll, was ihm widerstrebt, hat einen Traum: zu reisen und
Amerika zu sehen, bevor das Leben vorbei ist. Von einem
Freund, der seinen Wehrdienst bei den Grenztruppen in Thüringen
ableistet, haben er und Christian Gaudian Ende 1988 gehört,
der Schießbefehl sei ausgesetzt; geschossen werden dürfe
nur noch auf Fahnenflüchtige und bei Angriffen auf
Grenzsoldaten. Beide gehen davon aus, ihnen werde schon
nichts passieren.
Von einer Gartenkralle haben sie den Stiel entfernt und ein
Seil daran gebunden. Mit diesem Wurfanker wollen sie die
letzte Barriere vor dem Teltowkanal, an dieser Stelle ein
Streckmetallgitterzaun, überwinden. Bei drei Grad minus
kriechen sie fast drei Stunden durch Schrebergärten, bevor
sie gegen 23.40 Uhr die Hinterlandmauer erreichen. Es
gelingt ihnen, die Mauer unerkannt zu übersteigen. Das nächste,
nur fünf Meter entfernte Hindernis ist der Signalzaun. Zwar
kommen sie hinüber, doch lösen sie dabei optischen Alarm
aus; die Grenzsoldaten werden auf sie aufmerksam.
Chris Gueffroy und Christian Gaudian rennen auf den
Streckmetallzaun, das letzte Sperrelement, zu, als sie von
einem Postenpaar unter Beschuss genommen werden. Sie
versuchen, den Schüssen zu entkommen, indem sie am Zaun
entlang von den Soldaten weglaufen. Vergeblich versuchen
beide abwechselnd, dem jeweils anderen mit einer Räuberleiter
über den Zaun zu verhelfen. Die Flucht vor dem ersten
treibt sie in die Arme eines zweiten Postenpaares. Schüsse
peitschen durch die Nacht, schlagen Funken am Stahlzaun.
Chris Gueffroy sackt zusammen, fällt zu Boden und liegt
leblos vor seinem Freund, der ebenfalls, von einem Geschoss
am Fuß getroffen, stürzt.
Chris Gueffroy stirbt innerhalb weniger Minuten. Ein
Brustschuss hat ihm den Herzmuskel zerrissen. Christian
Gaudian wird am 24. Mai 1989 durch das Stadtbezirksgericht
Berlin-Pankow wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts
im schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren
verurteilt.
Der Tod des 20jährigen führt zu internationalen Protesten
gegen den Schießbefehl und die Berliner Mauer. Die
westlichen Alliierten protestieren und bezeichnen die Schüsse
als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Die Schüsse
auf Chris Gueffroy und Christian Gaudian sind die letzten
Todesschüsse an der Berliner Mauer.
6. Februar: In Warschau beginnen die
Gespräche zwischen der Regierung und der unabhängigen
Gewerkschaft "Solidarnosc" am Runden Tisch.
11. Februar: Das Zentralkomitee der
Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) beschließt,
das Machtmonopol der kommunistischen Partei aufzugeben und
zum Mehrparteiensystem überzugehen. Auch soll der
"Eiserne Vorhang", der Stacheldraht an der
ungarisch-österreichischen Grenze, abgebaut und durch eine
normale Grenzsicherung ersetzt werden.
15. Februar: Der letzte sowjetische Soldat
verlässt Afghanistan. Staats- und Parteichef Nadjibullah
hat Afghanistan zur Fortsetzung des Kampfes gegen die
Mudjaheddin seit dem 5. Februar unter Kriegsrecht gestellt.
16. Februar: Eine vierköpfige Familie aus
Potsdam flüchtet mit ihrem Auto auf den Parkplatz der Ständigen
Vertretung, durchbricht eine Sperre und verletzt dabei einen
DDR-Volkspolizisten.
21. Februar: Der tschechoslowakische
Schriftsteller und Bürgerrechtler Vaclav Havel wird in Prag
wegen "Rowdytums" zu einer neunmonatigen
Haftstrafe verurteilt. Er hatte bei der Demonstration zum
Gedenken an die Selbstverbrennung Jan Palachs versucht,
Blumen auf dem Prager Wenzelsplatz niederzulegen. Im Mai
wird Havel auf Bewährung freigelassen. - Leipziger
Oppositionsgruppen wie der "Arbeitskreis
Gerechtigkeit" und die "Arbeitsgruppe
Menschenrechte" hatten gegen die Inhaftierung Vaclav
Havels protestiert.
- Im
Februar gelingt 5008 Bürgern die Flucht in den Westen;
4087 Menschen dürfen die DDR mit Genehmigung verlassen.
-
-
März 1989
Anfang März: Der innerdeutsche
Handel erreichte 1988 einen Umsatz von 14,3 Milliarden
Verrechnungseinheiten und ist damit nach Angaben des
Bundeswirtschaftsministeriums im dritten Jahr
hintereinander zurückgegangen.
3. März: Der im November 1988 als
Reformer neu ins Amt gekommene ungarische Ministerpräsident
Miklós Németh stattet Michail Gorbatschow in Moskau
einen Antrittsbesuch ab. Er informiert den
KPdSU-Generalsekretär über die Pläne seiner
Regierung, die ungarischen Grenzanlagen zu Österreich
nicht zu erneuern und in Ungarn eine
Mehrparteiendemokratie einzuführen.
Der ungarische Ministerpräsident verlangt den Abzug
der sowjetischen Truppen aus seinem Land, insbesondere
die Entfernung der gegen Westeuropa gerichteten
sowjetischen atomaren Mittelstreckenraketen. Gorbatschow
verspricht Németh, dass es gegen den ungarischen
Reformkurs zu keiner Wiederholung einer sowjetischen
Intervention in Ungarn kommen wird, solange er
KPdSU-Generalsekretär ist.
8. März: Bei einem Versuch, mit
einem selbstgebastelten Heißluftballon aus der DDR zu
flüchten, stürzt der 32-jährige Winfried Freudenberg
über West-Berlin ab und kommt dabei zu Tode.
13. März: Mehrere hundert Menschen
demonstrieren während der Leipziger Frühjahrsmesse im
Anschluss an ein Friedensgebet in der Leipziger
Nikolaikirche mit den Rufen "Wir wollen raus! Wir
wollen raus!" für ihre Ausreise in den Westen.
Volkspolizei schreitet ein; es kommt zu Verhaftungen.
16. März: Eine rot-grüne Koalition löst
in West-Berlin den CDU-geführten Senat unter Eberhard
Diepgen ab; Walter Momper wird Regierender Bürgermeister
von Berlin. Bei der Wahl am 29. Januar 1989 hatten CDU
und FDP unerwartet große Verluste hinnehmen müssen, während
SPD und Alternative Liste Stimmengewinne verzeichneten
und die rechtsradikalen "Republikaner" aus dem
Stand Sitze im Abgeordnetenhaus erringen konnten: CDU
37,8 Prozent (1985: 46,4), SPD 37,3 (32,4), AL 11,8
(10,6), Republikaner 7,5 (-), FDP 3,9 (8,5).
Als mit ausschlaggebend für das schwache Abschneiden
der CDU und den Erfolg der "Republikaner"
wertet Bundeskanzler Helmut Kohl die Angst vor der
wachsenden Zahl von Aussiedlern und Asylbewerbern.
26. März: Dem Bundesnachrichtendienst
(BND) liegen der "Welt am Sonntag" zufolge
Informationen vor, denen zufolge die DDR-Führung davon
ausgeht, dass bis zu 1,5 Millionen DDR-Bürger in die
Bundesrepublik übersiedeln wollen. – Konsistorialpräsident
Manfred Stolpe teilt am Rande einer Tagung der Synode
von Berlin-Brandenburg Anfang April dagegen als Einschätzung
der evangelischen Kirche der DDR mit, dass rund 60.000
Anträge für etwa 150.000 Personen vorlägen und die
Zahl des BND "eine Null zuviel" enthalte.
- Im
März gelingt 5671 Bürgern die Flucht in den
Westen; 4487 Menschen dürfen die DDR mit
Genehmigung verlassen.
-
-
April 1989
|
3. April: Der
Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee
und Sekretär des Nationalen
Verteidigungsrates, Generaloberst Fritz
Streletz, informiert führende Militärs darüber,
dass Erich Honecker informell die Aufhebung
des Schießbefehls angeordnet habe. Honecker
habe befohlen: "Es darf nicht auf
fliehende Menschen geschossen werden, wenn es
keinen Schießbefehl gibt. (...) Es gilt zu
beachten: Lieber einen Menschen abhauen
lassen, als in der jetzigen politischen
Situation die Schußwaffe anzuwenden." -
Die Aufhebung des Schießbefehls wird in den
DDR-Grenztruppen in den kommenden Tagen mündlich
verbreitet, dringt aber nicht nach. |
3. April: Auf der Synode der
Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg wird
eine gerechtere Gestaltung der Reisepraxis von der
DDR-Regierung gefordert. Ein Teilnehmer der Synode
nennt Beispiele dafür, welche Versuche junge Leute
anstellen, um auf offiziellem Weg in den Westen
reisen zu können.
4. April: Einen Monat vor den
Kommunalwahlen ist die Versorgungslage in der DDR
prekär. RIAS berichtet über die Situation im Land
im Vorfeld der Kommunalwahlen.
5. April: In Polen unterzeichnen
Regierung und Opposition nach zweimonatigen
Verhandlungen am Runden Tisch eine Übereinkunft über
politische und wirtschaftliche Reformen. Die unabhängige
Gewerkschaft "Solidarnosc" und die "Bauern-Solidarnosc"
werden wieder zugelassen. – Die SED schätzt in
einer internen Analyse die Verhandlungsergebnisse
als Machtverlust und Schwächung der polnischen
Kommunisten ein.
Ursache der kompromißlerischen Politik sei die
schwere Versorgungskrise in Polen und die mit 39
Mrd. US-Dollar hohe Westverschuldung. "In
dieser Situation wachsender Besorgnisse und
Hilflosigkeit sowie zunehmender ideologischer
Verwirrung", heißt es in dem Papier,
"begann die Idee Raum zu greifen, wonach eine
Legalisierung der 'Solidarnosc' einige neue Quellen
und Möglichkeiten für eine schrittweise
Konsolidierung der Lage erschließen könne."
Diese Hoffnungen richteten sich dabei vor allem auf
ein ökonomisches Entgegenkommen des Westens, auf
das Gewinnen weitgehender politischer Unterstützung
durch die katholische Kirche sowie auf die Annahme,
man sei in der Lage, die Opposition zu spalten, zu
neutralisieren und Teile von ihr einzubinden. Die
PVAP ging von der Annahme aus, sie könne die mit
diesem Vorgehen verbundenen Risiken letztendlich
beherrschen."
Der Spielraum für die Parteiführung und Regierung
in Polen, so heißt es weiter, "hat sich
nunmehr weiter verengt. Einige polnische Genossen
sind der Auffassung, dass für den äußersten Fall
noch die erneute Einführung eines Ausnahmezustandes
verbleibe. Sie verweisen darauf, dass auf die Kader
in den bewaffneten Organen weiterhin Verlaß sei,
der Staatsapparat funktioniere und das Bündnis mit
den befreundeten Parteien und Organisationen bisher
standgehalten habe.
Zugleich betonen sie jedoch, dass ein solcher
Schritt jetzt noch weitaus problematischer wäre als
1981, zu unabsehbaren Konsequenzen, bis hin zum Bürgerkrieg,
führen könnte und selbst bei günstigstem Verlauf
die Überwindung vieler Hauptschwierigkeiten, vor
allem auf wirtschaftlichem Gebiet, nicht erleichtern
würde." Für die Politik der SED wird der
Schluss gezogen, der entstandenen realen Situation
Rechnung zu tragen und alle Anstrengungen darauf zu
richten, "der PVAP und anderen
fortschrittlichen Kräften Volkspolens Unterstützung
bei der Verteidigung der sozialistischen
Gesellschaftsverhältnisse zu geben, unsere
sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen
Interessen zu gewährleisten und vermeidbaren
Schaden von der DDR abzuwenden."
12. April: Bei nationalistischen
Unruhen in Georgien – Abchasen fordern den
Austritt ihrer Republik aus der Georgischen
Sozialistischen Sowjetrepublik, Georgier den
Austritt Georgiens aus der Sowjetunion - schreitet
die sowjetische Armee ein und richtet ein Blutbad
an: Mindestens 19 Demonstranten werden getötet.
13. April: Auf das Absinken der CDU
in Meinungsumfragen und die innerparteiliche Kritik
an seiner Person nach den CDU-Wahlniederlagen in
Berlin und Hessen reagiert Bundeskanzler Helmut Kohl
mit einer Kabinettsumbildung, der die bisherigen
Minister Oskar Schneider (Wohnungsbau) und Rupert
Scholz (Verteidigung) zum Opfer fallen. Rudolf
Seiters wird neuer Minister im Bundeskanzleramt;
sein Vorgänger Wolfgang Schäuble
Bundesinnenminister; Finanzminister Gerhard
Stoltenberg wechselt ins Verteidigungsministerium, während
der CSU-Vorsitzende Theo Waigel das Finanzressort übernimmt.
Wie kritisch die Lage der CDU/FDP-Bundesregierung
unter Kanzler Kohl gesehen wird, zeigt ein Kommentar
der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der
sich durch das "jetzige Rangieren im Innern des
Regierungsgebäudes" an Versuche des Vorgängers
Helmut Schmidt Ende April 1982 erinnert sieht,
"die ramponierte Fassade seiner Regierung noch
zu restaurieren (...)."
14. April: Auf einer Tagung der
Bankräte der östlichen Internationalen Bank für
wirtschaftliche Zusammenarbeit vom 11. – 14. April
in Moskau erfahren die DDR-Vertreter, dass sowohl
die Sowjetunion als auch die CSSR informelle
Kontakt- und Sondierungsgespräche über einen
Beitritt zum Internationalen Währungsfonds (IWF) führen.
22. April: Massendemonstrationen in
China: Studenten fordern in Peking die Freiheit, die
Staats- und Parteiführung zu kritisieren, und das
Recht, unabhängige Interessenvertretungen zu
bilden.
26. April: SED-Generalsekretär
Erich Honecker teilt in einem Fernschreiben den 1.
Sekretären der SED-Bezirksleitungen mit, die
ungarische Parteiführung verfüge offensichtlich
nicht mehr über den Willen, "die politische
Macht zu verteidigen. Der Prozess einer spürbaren
Erosion sozialistischer Machtverhältnisse,
Errungenschaften und Werte hat sich beschleunigt und
alle gesellschaftlichen Gebiete ergriffen". Die
DDR werde jedoch alles tun, um "zur
Verteidigung der sozialistischen Gesellschaftsverhältnisse
in Ungarn beizutragen."
28. April: Auf einer
"zentralen Dienstbesprechung" des
Ministeriums für Staatssicherheit gibt Minister
Erich Mielke die Aufhebung des Schießbefehls
bekannt, macht aber dabei zugleich seinem Herzen
Luft: "Ich will überhaupt mal was sagen,
Genossen. Wenn man schon schießt, dann muss man es
eben so machen, dass nicht noch der Betreffende
wegkommt, sondern dann muss er eben dableiben bei
uns. Was ist denn das für eine Sache, was ist denn
das, 70 Schuss loszuballern, und der rennt nach drüben,
und die machen eine Riesenkampagne. Da haben sie
recht. Mensch, wenn einer so mies schießt, sollen
sie eine Kampagne machen."
Nur widerwillig scheint sich der Stasi-Chef den
neuen Anforderungen zu beugen: "Wo noch etwas
mehr revolutionäre Zeiten waren, da war es nicht so
schlimm. Aber jetzt, nachdem alles so neue Zeiten
sind, muss man den neuen Zeiten Rechnung
tragen."
Mai 1989
2. Mai: Ungarische Grenzsoldaten
beginnen mit dem Abbau des Stacheldrahtzaunes zu Österreich.
- DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler geht in
einer Information an SED-Generalsekretär Erich
Honecker vom 6. Mai über den Beginn der "planmäßigen
Demontage des Grenzsignalzaunes an der Staatsgrenze
der Ungarischen Volksrepublik zu Österreich"
davon aus, dass es sich lediglich um eine
grenzkosmetische Maßnahme handelt und die
ungarische Regierung die weitere Sicherung der
Grenze gewährleisten werde.
6. Mai: Die Zahl der DDR-Übersiedler
hat in den Vortagen Rekordhöhe erreicht: am 4. Mai
kamen im Aufnahmelager Gießen 345, am 5. Mai 250 Übersiedler
an. Nach Angaben des hessischen Sozialministeriums
sind die Aufnahmekapazitäten damit "restlos
erschöpft". Normal seien Zugangszahlen von 50
bis 80 Personen pro Tag. Gegenüber dem Vorjahr hat
sich die Übersiedlerzahl in den ersten vier Monaten
des Jahres 1989 verdreifacht.
7. Mai: Unabhängige Bürgergruppen,
die die Stimmenauszählung in den Wahllokalen überwachen,
überführen die SED der Fälschung der
Kommunalwahl-Ergebnisse: Sie können nachweisen,
dass zwischen den von ihnen in den Wahllokalen
mitgezählten und den später bekannt gegebenen
Ergebnissen Differenzen bestehen. Fortan wird in
Ost-Berlin und anderen Städten am 7. jeden Monats
öffentlich gegen die Wahlfälschung demonstriert.
8. Mai: Das ZK der ungarischen
Kommunisten enthebt den früheren Parteichef Janosz
Kadar aller Ämter.
15. Mai: In Peking findet das
erste Gipfeltreffen der sowjetischen und
chinesischen Führung seit dreißig Jahren statt.
Der Besuch Gorbatschows ist von Massenprotesten überlagert,
auf denen mehr als eine Million Menschen von der
chinesischen Parteiführung fordern, dem Beispiel
von Gorbatschow zu folgen und Freiheit und
Demokratie zu gewähren. Tausende von Studenten sind
auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking für
diese Ziele in einen Hungerstreik getreten. Am 20.
Mai wird über acht Pekinger Bezirke das Kriegsrecht
verhängt.
16. Mai: Im internen Kreis von
Wirtschaftsverantwortlichen des SED-Politbüros führt
Planungschef Gerhard Schürer aus, dass die
Westverschuldung der DDR gegenwärtig um über 500
Mio. DM im Monat zunehme. Er warnt davor, dass der
DDR bei Fortsetzung dieser Entwicklung 1991 die
Zahlungsunfähigkeit drohe.
23. Mai: Die Bundesversammlung wählt
Richard von Weizäcker erneut zum Bundespräsidenten.
24. Mai: In Bonn wird der 40.
Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes mit
einem Staatsakt gefeiert.
25. Mai: Vom neu geschaffenen
Kongress der Volksdeputierten wird Michail
Gorbatschow, KPdSU-Generalsekretär und zugleich
Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjet,
ohne Gegenkandidaten zum Staatspräsidenten gewählt.
25./26. Mai: Auf einer Beratung der
stellvertretenden Finanzminister des RGW schlägt
der Vertreter der Sowjetunion vor, wie es in einer
DDR-Niederschrift dieses Treffens heißt, "im
Zeitraum 1991-1995 zu Verrechnungen überzugehen,
die auf der Anwendung verschiedener Währungen
beruhen. Dabei wird insbesondere auf die Verrechnung
in konvertierbaren Devisen orientiert. Der
wesentliche Inhalt dieses Vorschlages besteht darin,
zu einer maximalen Annäherung an die ökonomischen
Bedingungen des kapitalistischen Weltmarktes,
insbesondere durch Anwendung aktueller
Weltmarktpreise zu kommen und für die Betriebe
einheitliche Bedingungen sowohl auf dem
kapitalistischen Weltmarkt als auch auf dem
RGW-Markt zu schaffen. Dazu ist nach Meinung der
sowjetischen Experten weder der transferable Rubel
noch das zwischen einigen RGW-Ländern bilateral
vereinbarte Prinzip der Verrechnung in nationalen Währungen
in der Lage."
Nur die ungarische Delegation unterstützt diesen
Vorschlag. Die DDR dagegen lehnt ihn entschieden ab,
weil ihre Produktivität zu niedrig ist, um mit
Weltmarktpreisen konkurrieren zu können.
29. Mai: Ein Gipfeltreffen der
Staats- und Regierungschefs der NATO in Brüssel
verabschiedet ein "Gesamtkonzept für Rüstungskontrolle
und Abrüstung".
30./31. Mai: Nach dem
NATO-Gipfel besucht US-Präsident George Bush die
Bundesrepublik. In einer Rede in Mainz bietet Bush
der Bundesrepublik als Freund und Verbündeter eine
Rolle als "partner in leadership" an. Er
fordert "Europa muss einig werden und
frei" und klagt für Osteuropa freie Wahlen und
politischen Pluralismus ein. Unter Verweis auf den
Abbau des Stacheldrahts an der ungarisch-österreichischen
Grenze ruft der US-Präsident aus: "Let Berlin
be next!" Die Mauer stehe als Monument für das
Scheitern des Kommunismus. Sie müsse fallen.
Chronik
Juni 1989
4. Juni: Die chinesische Armee
schlägt die Demokratiebewegung in Peking auf dem
Platz des Himmlischen Friedens blutig nieder und
richtet dabei ein Massaker an: die Zahl der Toten
wird mit mehreren Tausend angegeben. - Bei den
Wahlen zum Sejm, dem polnischen Parlament, und dem
Senat, an denen sich die "Solidarnosc"
beteiligen darf, erleiden die Kommunisten eine
schwere Niederlage. Während für die Wahl zum Sejm
vorab eine Aufteilung von 65 zu 35 zugunsten der
Kommunisten vereinbart worden war, gewinnt
"Solidarnosc" 92 der 100 Sitze im Senat. -
In der Sowjetrepublik Usbekistan kommt es zu
Auseinandersetzungen zwischen Usbeken und der
schiitischen Minderheit der Meschtscheren, die
gewalttätig aufgelöst werden.
8. Juni: Die DDR-Volkskammer
wertet das Massaker auf dem Pekinger "Platz des
himmlischen Friedens" am 4. Juni als
"Niederschlagung einer Konterrevolution".
12. Juni: Der Beitritt Ungarns
zur Genfer Flüchtlingskonvention wird
rechtswirksam. Danach ist es untersagt, Flüchtlinge
in den Staat zurückzuschicken, aus dem sie geflohen
sind. Eine Delegation der Stasi erkundigt sich in
Budapest besorgt nach den Folgen des Beitritts für
DDR-Flüchtlinge. Der ungarische Geheimdienst-Chef
Ferenc Pallagi teilt mit, dass DDR-Bürger nach wie
vor nicht als Flüchtlinge anerkannt, sondern in die
DDR ausgewiesen würden: "Eine Ausreise nach
der BRD/Österreich oder einem anderen Staat eigener
Wahl wird nicht gestattet."
12. bis 15. Juni: Während eines
Staatsbesuches in der Bundesrepublik schlägt
Michail Gorbatschow bei seinen öffentlichen
Auftritten Sympathie und Begeisterung der Bevölkerung
entgegen ("Gorbimanie"). Es finden
intensive Gespräche zwischen dem
KPdSU-Generalsekretär und dem Bundeskanzler statt,
die eine Vertrauensbeziehung beider Politiker begründen.
Michail Gorbatschow und Helmut Kohl unterzeichnen
eine "Gemeinsame Erklärung", in der beide
Seiten das Recht eines jeden Staates, "das
eigene politische und soziale System frei zu wählen"
und die "Achtung des Selbstbestimmungsrechtes
aller Völker" als unumstößliche Prinzipien
ihrer Politik anerkennen.
13. Juni: In Ungarn beginnen
zwischen der Regierungspartei (USAP) und der
politischen Opposition Verhandlungen am Runden Tisch
über die Abhaltung von freien Wahlen.
20. Juni: Blutige Unruhen in der
Sowjetrepublik Kasachstan.
22./23. Juni: In Ost-Berlin tritt
das 8. Plenum des SED-Zentralkomitees zusammen. Es
wird Kritik am Auftreten Gorbatschows in der
Bundesrepublik geäußert, insbesondere wegen seiner
Nichtreaktion auf angebliche "Ausfälle"
von Bundeskanzler Kohl gegen die DDR; die
entsprechenden Passagen werden nicht veröffentlicht.
Mangels Diskussionsbeiträgen wird die Tagung weit
vor der vorgesehenen Zeit beendet. Mit einem
Einschub in den Bericht des Politbüros setzt
Honecker einen kuriosen Höhepunkt. Kurz zuvor hatte
das Politbüro die Absicht der Stadt Leipzig begrüßt,
sich um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele
im Jahr 2004 zu bewerben. Honecker verliest dazu im
ZK als Kommentar des RIAS: "Also geht doch
zumindestens Erich Honecker davon aus, dass die DDR
auch noch im Jahre 2004 existiert." Die
ZK-Mitglieder schütten sich aus vor Lachen – und
Erich Honecker und Egon Krenz lachen lauthals mit.
Juli 1989
4. Juli:
Bundeskanzleramtsminister Rudolf Seiters stattet
SED-Generalsekretär Erich Honecker einen
Antrittsbesuch in Ost-Berlin ab. Im Vorfeld des
Besuches, so Stasi-Minister Mielke in einem
Schreiben an Außenminister Oskar Fischer, sei dem
MfS die Absicht der BRD bekannt geworden, "von
Gegenleistungen bei der Lösung humanitärer
Probleme mit der Begründung abzurücken, dass diese
nicht mehr KSZE-gemäß seien". Diese Absicht
sei zurückzuweisen, fordert Mielke; schließlich
verursache jeder aus der DDR Ausgereiste einen
Warenproduktionsausfall von 220.000 Mark.
Auf den Zahlungen der BRD für Ausreisen und
Familienzusammenführung sei deshalb weiterhin zu
bestehen; die Verständigungsbereitschaft der DDR dürfe
"nicht zu einer ökonomischen Ausplünderung
der DDR führen". – Doch bleibt die vom MfS
befürchtete Kontroverse aus; der Besuch von Seiters
dient lediglich einem allgemeinen Meinungsaustausch
und bewegt sich in den eingefahrenen Gleisen des
"deutsch-deutschen Kriechganges" (Hermann
Rudolph).
7. Juli: Auf dem Gipfeltreffen des
Warschauer Paktes in Bukarest gibt die Sowjetunion
offiziell die Breschnew-Doktrin der begrenzten
Souveränität der Mitgliedsstaaten auf und verkündet
die "Freiheit der Wahl": Die Beziehungen
untereinander sollen künftig, wie es im Bukarester
Abschlussdokument heißt, "auf der Grundlage
der Gleichheit, Unabhängigkeit und des Rechtes
eines jeden Einzelnen, selbstständig seine eigene
politische Linie, Strategie und Taktik ohne
Einmischung von außen auszuarbeiten"
entwickelt werden. Die sowjetische Bestandsgarantie
für die kommunistischen Regime in Mitteleuropa ist
damit in Frage gestellt. – Erich Honecker erleidet
während des Treffens eine Gallenkolik und wird mit
einer Sondermaschine vorzeitig nach Ost-Berlin zurückgeflogen.
7. Juli: Eine Demonstration von
Bürgerrechtlern auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz
gegen die Wahlfälschung vom 7. Mai wird von einem
massiven Polizeiaufgebot aufgelöst. – Auch zum
Abschluß des alternativen
"Statt-Kirchentages" in Leipzig wird am 9.
Juli gegen den Wahlbetrug demonstriert.
9. Juli: Nationalitätenunruhen in
der Sowjetrepublik Moldawien.
9. Juli: Beginn einer Europa-Reise
von US-Präsident George Bush und Außenminister
James Baker, die beide zunächst in die Staaten führt,
in denen der Reformprozess am weitesten
fortgeschritten ist: nach Polen und anschließend
nach Ungarn. Die Besuche haben eine hohe symbolische
Bedeutung; dennoch enttäuschen die in Warschau und
Budapest in nur geringem Umfang zugesagten
US-Finanzhilfen und Handelserleichterungen. Die
Vereinigten Staaten wollen die Sowjetunion nicht
destabilisieren; Bush und Baker suchen die
Kooperation mit Michail Gorbatschow und Eduard
Schewardnadse.
Mitte Juli: Die westdeutsche
Presse berichtet über eine zunehmende Fluchtwelle
von DDR-Bürgern über Ungarn nach Österreich.
Viele Flüchtlinge werden von ungarischen
Grenzposten zwar noch festgenommen, aber immer
seltener an die DDR-Staatssicherheit ausgeliefert.
Noch Mitte Juli hat die ungarische Staatssicherheit
ihrem DDR-Bruderorgan allerdings versichert,
weiterhin die Grenze zu Österreich zuverlässig schützen
zu wollen, DDR-Bürger nicht als politische Flüchtlinge
im Sinne der Genfer Konvention zu behandeln und
ihnen die Weiterreise in ein Land ihrer Wahl zu
verwehren.
15. Juli: Der 15.
Weltwirtschaftsgipfel der sieben führenden
Industrienationen (G-7) in Paris verweigert China
wegen der Niederschlagung der Demokratie-Bewegung
neue Weltbank-Kredite. Im sibirischen Kohlerevier
Kusbass und im größten Kohlegebiet der
Sowjetunion, dem ukrainischen Donez-Becken, streiken
die Bergarbeiter für höhere Löhne und bessere
Lebensbedingungen. Als ihnen diese Ende Juli
versprochen werden, werden die Streiks beendet.
Ende Juli: In mehreren
diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik im
Ostblock, darunter auch in Budapest und Ost-Berlin,
halten sich Ende Juli mehr als 150 ausreisewillige
DDR-Bürger auf, die ihre Ausreise in den Westen auf
diese Weise erzwingen wollen.
Mehrfach wird von einem Ansturm ausreisewilliger
DDR-Bürger berichtet. Die Meldungen kann der RIAS
nicht bestätigen, wohl aber eine stetig wachsende
Zahl an Ausreisewilligen und die zunehmende
Unzufriedenheit im Land.
August 1989
Anfang August: Dem Entwurf einer Vorlage der
ZK-Abteilung Sicherheitsfragen ("Information und Schlußfolgerungen
zu einigen aktuellen Fragen der feindlichen Einwirkung auf Bürger
der DDR") zufolge haben die DDR-Sicherheitsorgane 160
"feindliche, oppositionelle Zusammenschlüsse",
darunter 150 sogenannte kirchliche Basisgruppen, mit insgesamt
etwa 2.500 Personen gezählt. Es würden "ca. 25 nicht
genehmigte Druck- und Vervielfältigungserzeugnisse mit
antisozialistischem Inhalt hergestellt und verbreitet. Dazu wird
fast ausschließlich kircheigene oder private Technik
verwendet". Zu den Hauptrichtungen gegnerischen Einwirkens
gehöre, der DDR "einen permanenten Nachholebedarf,
insbesondere bei der Verwirklichung der Menschenrechte zu
unterstellen. Darin eingeschlossen ist die anhaltende
Diskreditierung der Kommunalwahlen." Als
"sozialismusfremde Tendenz" unter Jugendlichen wird
die Existenz von 51 Skin-Gruppen (denen ca. 1.000 Jugendliche
angehören), von 10 Punk-Gruppen, 32 Heavy-Metals und 9
Grufti-Gruppierungen gesehen.
5. August: Erstmals nimmt die DDR-Regierung
offiziell zu den Botschaftsflüchtlingen im DDR-Fernsehen DDR
Stellung und bestätigt, dass sie ein Fluchtproblem hat.
7. August: Die SED-Führung kündigt die
sogenannte Anwaltszusage auf. Rechtsanwalt Vogel teilt dem
Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen mit, dass er
Zufluchtsuchenden in den Vertretungen der Bundesrepublik nur
noch Straffreiheit bei Verlassen und Rückkehr in die DDR, nicht
aber mehr wie bisher eine schnelle positive Entscheidung des
Ausreiseantrags zusagen könne. - In einer offiziellen Erklärung
des DDR-Außenministeriums wird die Bundesregierung in scharfen
Worten wegen der Wahrnehmung von Obhutspflichten für DDR-Bürger
einer "groben Einmischung in souveräne Angelegenheiten der
DDR" bezichtigt, die eine "typische großdeutsche
Anmaßung" sei und zu "folgenreichen Konsequenzen führen"
könne.
8. August: Die Ständige Vertretung der
Bundesrepublik in Ost-Berlin, die von rund 130 DDR-Bürgern
besetzt ist, wird geschlossen. Am 14. und 22. August folgen die
Schließungen der Botschaften in Budapest und Prag, in denen
sich 171 bzw. 140 Fluchtwillige aufhalten. Bei nahezu jeder
Begegnung mit den Spitzen der SED haben bundesdeutsche Politiker
ihr Desinteresse an einer Ausreisewelle aus der DDR betont.
Bundesdeutsche Regierungs- und Oppositionspolitiker warnen die
DDR-Bürger nun öffentlich vor einer Flucht. In der
westdeutschen Öffentlichkeit beginnt eine Diskussion darüber,
ob und wie viele Flüchtlinge die Bundesrepublik noch aufnehmen
könne oder wolle. - Kanzleramtsminister Rudolf Seiters gibt
bekannt, dass bis Ende Juli 46.343 Personen legal aus der DDR in
die Bundesrepublik übergesiedelt sind. Er appelliert an
ausreisewillige DDR-Bürger, nicht den Weg über diplomatische
Vertretungen der Bundesrepublik zu gehen.
Bis zu 100 DDR-Bürgern gelingt täglich die Flucht von
Ungarn nach Österreich, Hunderte werden aber auch noch
festgenommen. Mehrere tausend DDR-Urlauber lagern in Budapest
bei 35 Grad Hitze am Straßenrand und in Vorgärten und warten
auf ihre Fluchtchance.
14. August: Anlässlich der Übergabe erster
Funktionsmuster von 32-bit-Mikroprozessoren durch das Erfurter
Kombinat Mikroelektronik erklärt Erich Honecker: "Den
Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf."
19. August: Das Ungarische Demokratische Forum
und weitere ungarische Oppositionsgruppen haben unter
Schirmherrschaft des Europa-Abgeordneten Otto von Habsburg und
des ungarischen Reformpolitikers Imre Pozsgay, Mitglied des
Politbüros der USAP und Staatsminister, zu einem "paneuropäischen
Picknick" an die ungarisch-österreichische Grenze bei
Sopron geladen, um durch die symbolische Öffnung eines
Grenztores und eine "einmalige, okasionelle Grenzüberschreitung"
für einen Abbau der Grenzen und ein geeintes Gesamteuropa zu
demonstrieren. Über 600 DDR-Bürger stürmen durch ein nur
angelehntes Grenztor nach Österreich. Nach wenigen Stunden wird
das Tor wieder geschlossen.
Die gefahrlose Grenzüberquerung, so wird später bekannt,
wurde durch ein Stillhalteabkommen zwischen Staatsminister
Pozsgay, dem Innenminister und dem Chef der Grenztruppen ermöglicht
– und ist ein Test, wie die Sowjetunion auf derartige Aktionen
reagiert.
21. August: Bei Demonstrationen in Prag anlässlich
des 21. Jahrestages der Niederschlagung des "Prager Frühlings"
werden mehrere hundert Menschen verhaftet.
22. August: Ein DDR-Bürger wird bei einem
Fluchtversuch nach Österreich von einem ungarischen Grenzposten
erschossen.
23. August: Hunderttausende gedenken in den
baltischen Republiken der Sowjetunion der verlorenen Unabhängigkeit.
24. August: Mithilfe des Internationalen Roten
Kreuzes werden über einhundert zufluchtsuchende DDR-Bürger aus
der Budapester Botschaft über Österreich in die Bundesrepublik
ausgeflogen. - In Polen wird Solidarnosc-Mitbegründer Tadeusz
Mazowiecki zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten
gewählt.
25. August: In Bonn kommen der ungarische
Ministerpräsident Miklos Németh und Außenminister Gyula Horn
mit Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans Dietrich
Genscher zu einem Geheimtreffen auf Schloß Gymnich zusammen. Németh
eröffnet das Gespräch mit Bundeskanzler Kohl und Außenminister
Genscher nach seinen Angaben mit den Worten: "Herr
Bundeskanzler, Ungarn hat sich entschieden, den DDR-Bürgern die
freie Ausreise zu erlauben. Wir haben uns dazu vor allem aus
humanitären Gründen entschieden."
Horst Teltschik zufolge versichert Kohl seinen Gesprächspartnern,
die Nachteile auszugleichen, die Ungarn durch eventuelle
Vergeltungsmaßnahmen der DDR entstehen würden. Die
Bundesregierung gewährt Ungarn im Gegenzug, aber zeitlich
versetzt, einen zusätzlichen Kredit über 500 Millionen DM und
verspricht die Aufhebung des Visazwangs und politische Hilfe
beim angestrebten EG-Beitritt.
26. August: Eine Initiativgruppe, zu der Martin
Gutzeit, Markus Meckel, Arndt Noack und Ibrahim Böhme gehören,
ruft zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR
auf.
29. August: Auf einer SED-Politbüro-Sitzung
herrscht Ratlosigkeit, wie mit der Flüchtlingskrise weiter
umgegangen werden soll. Günter Mittag, der den kranken Erich
Honecker vertritt, führt aus: "Ich möchte auch manchmal
den Fernseher zerschlagen, aber das nützt ja nichts. (...) Die
Sache mit Ungarn ist doch nicht zufällig vorbereitet worden.
Das ist ein Angriff an der schwächsten Stelle, um auch die DDR
in Misskredit zu bringen.
Genosse Mielke könnte eine Stunde und länger erzählen, welche
Mittel dafür eingesetzt wurden. Dazu kommt die
Frontberichterstattung des Gegners, wie wir das völlig richtig
bezeichnet haben. Wir müssen in den Hauptpunkten die Gebrechen
des Imperialismus zeigen. Wir müssen entlarven, wo er den
Sozialismus unterwühlen will. Aber die Grundlinie ist: Wir tun
das souverän und führen keinen Schlagabtausch. Das hat sich
bewährt. Wir müssen überlegen, wie wir die Argumentation
weiterführen."
31. August: Der ungarische Außenminister Gyula
Horn trifft in Ost-Berlin zu Gesprächen mit DDR-Außenminister
Oskar Fischer und Günter Mittag ein. Horn kündigt an, dass
Ungarn die Flüchtlinge ab dem 11. September ausreisen lassen
wird, falls sie bis dahin nicht durch eine Ausreisezusage zur Rückkehr
in die DDR bewogen worden sind. Mittag und Fischer lehnen beides
ab.
September 1989
Ohne um Erlaubnis in Moskau zu bitten, öffnet die ungarische
Regierung in diesem Monat ihre Grenze zu Österreich für DDR-Bürger
- und reißt damit das erste Loch in die Mauer.
4. September: Im Anschluss an das montägliche
Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche findet eine
Demonstration von etwa 1.200 Menschen statt. Ausreisewillige
Demonstranten skandieren: "Wir wollen raus!" und
fordern freie Fahrt nach Gießen. In Böhlen treffen sich
Vertreter einer sozialistischen Opposition und verabschieden
einen Appell "Für eine vereinigte Linke in der DDR",
der für eine radikale sozialistische Erneuerung plädiert und
dafür in der DDR und in der CSSR die besten wirtschaftlichen
und politischen Voraussetzungen sieht.
8. September: Aufgrund von Zusicherungen von
DDR-Rechtsanwalt Vogel verlassen alle DDR-Bürger die Ständige
Vertretung in Ost-Berlin. Sie wird anschließend für den
Besucherverkehr geschlossen. – In Budapest gelingt es
Stasi-Mitarbeitern nicht, Ausreisewillige zur Rückkehr in die
DDR zu bewegen.
9. September: Wie die "Tagesschau"
erfahren hat, soll die Ausreise der DDR-Flüchtlinge aus Ungarn
unmittelbar bevorstehen.
10. September: Die ungarische Regierung öffnet
in der Nacht zum 11. September die Grenze zu Österreich für
DDR-Bürger. Zehntausende von DDR-Bürgern reisen in den nächsten
Tagen und Wochen über Österreich in die Bundesrepublik aus.
KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow bestätigt später,
dass die Ungarn für diesen Schritt nicht mehr in Moskau um
Erlaubnis gebeten hatten.
11. September: Erneutes Friedensgebet in der
Leipziger Nikolaikirche; die Volkspolizei sperrt den
Nicolaikirchhof ab, um eine Demonstration zu verhindern.
Zahlreiche Menschen werden verhaftet.
12. September: Als wichtigste Frage wird auf
der dienstäglichen Politbüro-Sitzung von Günter Mittag, der
den erkrankten Honecker vertritt, thematisiert, wie "das
Loch Ungarn zuzumachen" sei, denn die Beantragung von
Reisen nach Ungarn ist überall in der DDR sprunghaft
angestiegen. Um "schwere Einbußen" an Bürgern zu
vermeiden, schlägt Mittag vor, "die Ausreisen nicht mehr
so global durchzuführen wie bisher. Wieso müssen die wackligen
Kandidaten fahren? Diese interne Regelung darf allerdings nicht
unsere Partei und die Masse der Bevölkerung betreffen. Wir würden
sie verärgern. MfS und MdI sollen diese Maßnahmen durchführen."
Noch am gleichen Tag befiehlt Stasi-Minister Mielke einen
"Maßnahmeplan zum rechtzeitigen Erkennen und zur
vorbeugenden Verhinderung des Missbrauchs von Reisen nach der
bzw. durch die Ungarische Volksrepublik". Er sieht vor,
dass alle Reiseanträge nach Ungarn, Bulgarien und Rumänien
zentral von der Stasi überprüft werden. Auf der Grundlage des
über die Antragsteller gesammelten Materials "hat die
erfassende Diensteinheit zu entscheiden, ob gegen die
Genehmigung der Reise aus sicherheitspolitischen Gründen
Einspruch zu erheben ist." Dieser Einspruch sei gegen die
Volkspolizei als eigentlich zuständiger Behörde durchzusetzen.
12. September: Auf Einladung des Deutschen
Gewerkschaftsbundes (DGB) trifft der FDGB-Vorsitzende Harry
Tisch in der Bundesrepublik ein. Von Journalisten auf die
Fluchtwelle aus der DDR angesprochen, fordert er verärgert
unter anderem ein Ende der "Schlammschlacht".
14. September: In Bonn gibt der Erfurter
Pfarrer Edelbert Richter die Gründung der DDR-Oppositionsgruppe
"Demokratischer Aufbruch" bekannt, die sich für eine
"sozialistische Gesellschaftsordnung auf demokratischer
Basis" ausspricht und unter anderem für Menschenrechte,
Reisefreiheit, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit und
freie Wahlen in der DDR eintritt. – Der West-Berliner Senat
berät über die zunehmende Zahl von DDR-Flüchtlingen und deren
Unterbringung. Es soll alles unternommen werden, um Notquartiere
bereitzustellen.
18. September: Hunderte von Demonstranten
gehen in Leipzig im Anschluss an das Friedensgebet in der
Nikolaikirche auf die Straße. "Wir bleiben hier!",
lauten die Sprechchöre, und nicht mehr, wie in den zurückliegenden
Wochen: "Wir wollen raus!" Zahlreiche Demonstranten
werden festgenommen. – Rockmusiker, Liedermacher und
Unterhaltungskünstler fordern angesichts der Fluchtbewegung in
einer öffentlichen Resolution Demokratisierung und Reformen,
die den Sozialismus möglich machen; feiges Abwarten liefere
"gesamtdeutschem Denken Argumente und
Voraussetzungen".
19. September: Das Neue Forum, das am 10.
September mit einem Gründungsaufruf an die Öffentlichkeit
getreten ist, beantragt als erste oppositionelle Gruppierung die
Zulassung als Bürgervereinigung. Zwei Tage später lehnt das
Innenministerium den Antrag mit der Begründung ab, das Neue
Forum stelle eine "staatsfeindliche Plattform" dar.
Den Aufruf des Neuen Forum haben bis zu diesem Zeitpunkt 3.000
Menschen unterschrieben. - Die Synode des Evangelischen
Kirchenbundes verabschiedet in Eisenach einen Beschluss, in dem
sie eine pluralistische Medienpolitik, demokratische
Parteienvielfalt, Reisefreiheit für alle Bürger,
wirtschaftliche Reformen und Demonstrationsfreiheit als "längst
überfällige Reformen" einklagt.
20. September: Die Bonner Botschaft in Warschau
muss wegen Überfüllung geschlossen werden. - Das ZK der KPdSU
verabschiedet eine Erklärung zur Nationalitätenpolitik, in der
den Republiken wirtschaftliche Selbstständigkeit versprochen
wird.
22. September: Fest entschlossen, allen
Demonstrationen und "Provokationen" ein schnelles Ende
zu bereiten, weist Erich Honecker die Ersten Sekretäre der
SED-Bezirksleitungen in einem Fernschreiben an, "dass diese
feindlichen Aktionen im Keime erstickt werden müssen, dass
keine Massenbasis dafür zugelassen wird." Zugleich sei
Sorge dafür zu tragen, "dass die Organisatoren der
konterrevolutionären Tätigkeit isoliert werden."
24. September: Die Botschaft der
Bundesrepublik in Prag wird zum Sammelpunkt für DDR-Flüchtlinge,
weil die CSSR die Kontrollen an der Grenze zu Ungarn verschärft.
25. September: Auf der Montagsdemonstration in
Leipzig fordern 5.000 bis 8.000 Demonstranten demokratische
Reformen und die Zulassung des Neuen Forum. Die Ausreisewilligen
unter den Demonstranten sind jetzt zur Minderheit geworden.
26. September: Der stellvertretende
Stasi-Minister Rudolf Mittig ruft die stellvertretenden Chefs
der MfS-Bezirksverwaltungen zusammen und gibt als Parole aus,
die "feindlich-oppositionellen Zusammenschlüsse" mit
dem Ziel der Zerschlagung "operativ zu bearbeiten".
Das MfS solle in diesen Gruppen - nicht zuletzt mit seinen darin
vertretenen inoffiziellen Mitarbeitern - Grabenkämpfe
forcieren, Misstrauen säen, die Mitglieder aufsplittern und
versuchen, die Politisierung der Gruppen durch das Aufwerfen von
Organisations- und Strukturfragen stoppen.
Ebenfalls an diesem Tag befiehlt Honecker zur "Gewährleistung
der Sicherheit und Ordnung" und "zur Verhinderung von
Provokationen unterschiedlicher Art" für den 40. Jahrestag
der DDR die Herstellung der Führungsbereitschaft der
Bezirkseinsatzleitung Berlin sowie der Kreiseinsatzleitungen der
Berliner Stadtbezirke. Auf der Grundlage dieses Befehls bringt
Verteidigungsminister Keßler am nächsten Tag vorsorglich die
Nationale Volksarmee für die Zeit vom 6. bis zum 9. Oktober
befehlsmäßig für einen Einsatz in Berlin in Stellung.
27. September: Die CSSR-Regierung erklärt,
dass es für die mittlerweile mehr als 900 Prager
Botschaftsbesetzer keine ungarische Lösung geben werde.
29. September: Gewerkschaftsmitglieder aus dem
VEB Bergmann-Borsig, einem Berliner Großbetrieb, verleihen
gegenüber dem FDGB-Vorsitzenden und Politbüromitglied Harry
Tisch ihrer Empörung Ausdruck, "die Abkehr so vieler
unserer Menschen ausschließlich als Machwerk des Klassengegners
zu entlarven, bei dem diese DDR-Bürger nur Opfer oder Statisten
sein sollen." Wie Rockmusiker und Künstler, Schriftsteller
und Wissenschaftler und auch Vertreter der Blockparteien fordern
sie die SED zum öffentlichen Dialog mit allen Kräften in der
Gesellschaft auf.
30. September: Die DDR lenkt im Prager
Botschaftskonflikt auf sowjetischen Druck hin ein: Außenminister
Genscher und Kanzleramtsminister Seiters reisen nach Prag und
verkünden die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer. In
verriegelten Sonderzügen werden einige tausend DDR-Flüchtlinge
über das Territorium der DDR in die Bundesrepublik gebracht.
Oktober 1989
|
1. Oktober: Die Gründungsmitglieder
des Neuen Forum geben bekannt, dass sie gegen die
Nichtzulassung als Vereinigung beim Ministerium des Innern
Beschwerde einlegen werden. Sie zeigen sich von dem
riesigen Interesse am Neuen Forum überrascht; man wolle
kein Reformkonzept vorgeben, sondern dieses "in einem
übergreifenden Diskussionsprozess erst entwickeln".
Die Wiedervereinigung sei kein Thema, "da wir von der
Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgehen und kein
kapitalistisches Gesellschaftssystem anstreben. Wir wollen
Veränderungen hier in der DDR." |
2. Oktober: Montagsdemonstration in Leipzig
mit bis zu 20.000 Teilnehmern. Die Losungen lauten unter
anderem: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit",
"Wir bleiben hier", Gorbi, Gorbi", "Neues
Forum zulassen" und "Freiheit für die
Gefangenen". Am Ende greift eine Kompanie der Volkspolizei
mit Sonderausrüstung ein; es gibt Verletzte und 20 "Zuführungen".
Zum ersten Mal, erinnerte sich Martin Jankowski, einer der
Demonstrationsteilnehmer später, wurde bei dieser Demonstration
"Wir sind das Volk" gerufen: "Als die Polizisten
den Lautsprecher einschalteten und sagten: ‚Hier spricht die
Volkspolizei’, antwortete die Menge: ‚Wir sind das Volk’.
Sie kamen gar nicht dazu, den Spruch zu vollenden. Es gab
wirklich so eine Art Wechselgesang, was uns eine Zeitlang sehr
amüsierte. (...) Das war der Tag, an dem zum ersten Mal in
Leipzig dieser Spruch ‚Wir sind das Volk’, und zwar
gerichtet an die Volkspolizei, gerufen wurde."
2. Oktober: In Peking ist am Vortag der 40.
Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China feierlich
begangen worden; Egon Krenz nimmt für das SED-Politbüro teil.
"In den Kämpfen unserer Zeit stehen DDR und China Seite an
Seite" – diese Schlagzeile des "Neuen
Deutschland" weckt Befürchtungen, dass auch die SED bereit
sein könnte, Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen.
In einem ADN zugeschriebenen Kommentar wird den über Prag
ausgereisten DDR-Bürgern hinterher gerufen: "Wir weinen
ihnen keine Träne nach."
3. Oktober: Die DDR schließt faktisch ihre
Grenzen, indem sie den visafreien Reiseverkehr in die CSSR
"aussetzt"; ab dem nächsten Tag wird diese Maßnahme
auch auf den Transitverkehr nach Bulgarien und Rumänien
ausgedehnt. Proteste bis hin zu Streikandrohungen aus den
grenznahen Gebieten zur CSSR sind die Folge.
4. Oktober: Noch einmal dürfen etwa 7.000
DDR-Bürger, die erneut die Prager Botschaft besetzt haben, in
verriegelten Sonderzügen in die Bundesrepublik ausreisen. Am
Dresdener Hauptbahnhof kommt es in der Nacht zum 5. Oktober zu
einer Straßenschlacht zwischen Ordnungskräften und etwa 10.000
Demonstranten, die auf die Flüchtlingszüge aufspringen wollen.
6. Oktober: In der "Leipziger
Volkszeitung" wird unter dem Namen des Kommandeurs der
Kampfgruppenhundertschaft "Hans Geiffert", Günter
Lutz, und der Überschrift "Staatsfeindlichkeit nicht länger
dulden" bekannt gegeben, dass die Kampfgrüppler im
Hinblick auf die bevorstehende Montagsdemonstration bereit und
willens seien, "das von uns mit unserer Hände Arbeit
Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären
Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein
muss, mit der Waffe in der Hand."
6./7. Oktober: Staatsfeierlichkeiten zum 40.
Jahrestag der DDR in Anwesenheit von Michail Gorbatschow, der
mit "Gorbi, hilf uns"-Rufen begrüßt wird.
"Tagesschau" und "Tagesthemen" berichten darüber.
|
In einem Vieraugengespräch der beiden
Generalsekretäre prahlt Honecker mit den Erfolgen der
DDR, lobt besonders das Wohnungsbauprogramm der SED und
die angebliche Weltspitzenposition auf dem Gebiet der
Mikroelektronik. Gorbatschow, der im Bilde ist, dass die
DDR in Wirklichkeit vor der Zahlungsunfähigkeit steht, fühlt
sich für dumm verkauft:
"Ich war entsetzt. Drei Stunden unterhielt ich mich
mit ihm. ... Und er fuhr fort, mich von den mächtigen
Errungenschaften der DDR überzeugen zu wollen." |
In einem spontanen Interview an der Ost-Berliner Neuen Wache
äußert Michail Gorbatschow den Satz: "Gefahren warten nur
auf jene, die nicht auf das Leben reagieren!" Vor dem
SED-Politbüro variiert er diesen Satz: "Wenn wir zurückbleiben,
bestraft uns das Leben sofort."
Nicht Gorbatschow, sondern sein Pressesprecher Gennadi
Gerassimow, macht daraus am Abend den Ausspruch "Wer zu spät
kommt, den bestraft das Leben!"
Am Abend des 7. Oktober demonstrieren Jugendliche vor dem
Palast der Republik. An diesem wie am folgenden Abend kommt es
in Ost-Berlin und anderen Städten zu schweren Übergriffen der
Volkspolizei und Massenfestnahmen.
8. Oktober: Erich Honecker teilt den Ersten
Sekretären der SED-Bezirksleitungen telegrafisch mit, dass die
Demonstrationen des Vortages "gegen die verfassungsmäßigen
Grundlagen unseres sozialistischen Staates gerichtet
waren." Es sei damit zu rechnen, dass es zu weiteren
"Krawallen" käme. Für diesen Fall erteilt er den
Befehl: "Sie sind von vornherein zu unterbinden." Die
Bezirkseinsatzleitungen, so Honeckers Anweisungen weiter,
sollten unverzüglich zusammenkommen und "Maßnahmen"
beraten; die Ersten Sekretäre hatten fortan der Abteilung
Parteiorgane des ZK täglich über die Lageentwicklung zu
berichten.
Entsprechend beurteilt Stasi-Chef Mielke die Lage im Innern
"als erheblich verschärft". Zur wirksamen Zurückdrängung
bzw. Unterbindung aller "Zusammenrottungen" befiehlt
der Stasi-Chef am gleichen Tag "volle
Dienstbereitschaft" für alle Angehörigen des MfS und die
Bereithaltung ausreichender Reservekräfte, "deren
kurzfristiger Einsatz auch zu offensiven Maßnahmen zur
Unterbindung und Auflösung von Zusammenrottungen zu gewährleisten
ist." Stasi-Mitarbeiter haben bis auf Widerruf ihre
Dienstwaffe ständig bei sich zu führen. Die Berichterstattung
westlicher Journalisten über Demonstrationen soll konsequent
verhindert werden. – Ungeachtet dessen beginnt in Dresden der
Dialog zwischen Opposition ("Gruppe der 20") und der
bezirklichen SED-Führung.
9. Oktober: "Tag der Entscheidung"
in Leipzig: 70.000 Menschen demonstrieren in Leipzig friedlich für
Reformen. Obwohl die DDR-Sicherheitsbehörden die Verhinderung
der Demonstration geplant und, falls dies nicht möglich ist,
ihre Zerschlagung und die Verhaftung der "Rädelsführer"
stabsmäßig geübt haben, greift die Staatsmacht nicht ein. Die
unerwartet große Zahl der Demonstranten bricht den
Handlungswillen der Sicherheitsorgane. – Auch in Halle und in
Magdeburg beteiligen sich mehrere tausend Menschen an
Demonstrationen.
10. Oktober: Gespräche zwischen den
Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang berhofer und der Opposition
wecken Hoffnungen auf den Beginn eines Dialogs.
10./11. Oktober: Am Ende einer ungewöhnlich
kontrovers verlaufenden zweitägigen Krisensitzung erklärt das
SED-Politbüro die Bereitschaft der Partei zu einem Dialog mit
der Bevölkerung. Erstmals gesteht das Politbüro ein, dass
Ursachen für die Fluchtbewegung auch in der DDR selbst zu
suchen seien. Zum anderen unterbreitet es das von vielen
geforderte Dialogangebot: "Gemeinsam wollen wir über alle
grundlegenden Fragen unserer Gesellschaft beraten, die heute und
morgen zu lösen sind. (...) Es geht um die Weiterführung der
Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Es geht um
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und ihren Nutzen für alle,
um demokratisches Miteinander und engagierte Mitarbeit, um gute
Warenangebote und leistungsgerechte Bezahlung, um
lebensverbundene Medien, um Reisemöglichkeiten und gesunde
Umwelt". - Egon Krenz hat diese Erklärung gegen den
erbitterten Widerstand von Honecker im Politbüro durchgesetzt.
16. Oktober: Mehr als 100.000 Menschen
demonstrieren in Leipzig. Sie fordern die Zulassung des Neuen
Forum, freie Wahlen sowie Reise-, Presse- und Meinungsfreiheit.
Auch parallele Demonstrationen mit rund 10.000 Teilnehmern in
Dresden und Magdeburg, 5.000 in Halle und 3.000 in Berlin
verlaufen friedlich.
17./18. Oktober: Ein erbitterter Machtkampf
im SED-Politbüro endet mit dem Sturz Erich Honeckers, der
gezwungen wird, seinen Abgang im SED-Zentralkommitee mit
gesundheitlichen Gründen zu erklären. Egon Krenz wird neuer
SED-Generalsekretär. Als politisches Credo seiner Politik der
"Wende" verkündet Krenz: "Wir lassen uns von der
festen Überzeugung leiten, dass alle Probleme in unserer
Gesellschaft politisch lösbar sind." In seiner
Antrittsrede verspricht Egon Krenz zudem, "einen
Gesetzentwurf über Reisen von DDR-Bürgern ins Ausland
vorzubereiten. Wir gehen davon aus, dass dieser Entwurf nach öffentlicher
Aussprache in der Volkskammer behandelt und beschlossen werden
sollte. Im Zusammenhang damit könnten ebenfalls die zeitweilig
getroffenen einschränkenden Maßnahmen zum Reiseverkehr in
sozialistische Bruderländer aufgehoben beziehungsweise
modifiziert werden."
21. Oktober: Auf einer Dienstbesprechung des
erweiterten Führungskreises des MfS lässt Stasi-Chef Mielke
wenig Zweifel daran, dass die Linie der Partei, politische
Probleme mit politischen Mitteln zu lösen, gegen seine
tschekistische Grundüberzeugung verstößt. Sie bedeute, läßt
Mielke wissen, auf die "antisozialistischen
Sammlungsbewegungen" nicht so zu reagieren, wie es
"diese Kräfte eigentlich verdienen." Um so
entscheidender wirkt sich auf das Verhalten des MfS bis zum Fall
der Mauer und auch danach aus, dass Mielke trotz seines Unverständnisses
jede eigenständige Politik des MfS an der Partei vorbei
kategorisch ausschließt.. "Bei allem, was wir tun,"
schärft er seinen Leitungskadern ein, "ist bis zur letzten
Konsequenz davon auszugehen: Alle Maßnahmen des Ministeriums für
Staatssicherheit, jeder Diensteinheit, haben sich in die
Generallinie, in die Beschlüsse des Zentralkomitees und seines
Politbüros einzuordnen, müssen auf ihre strikte Durchsetzung
gerichtet sein." Gewaltsame Mittel dürften nur eingesetzt
werden, "wenn eine unmittelbare Gefährdung von Personen,
Objekten und Sachen vorliegt und anders nicht abzuwenden
ist". In den nächsten Tagen, kündigt Mielke an, würden
zentrale Entscheidungen getroffen, wie künftig gegen die
oppositionellen Bewegungen vorgegangen werde.
23. Oktober: 300.000 Menschen demonstrieren in
Leipzig, Zehntausende in Magdeburg, Dresden, Schwerin, Zwickau,
Halle, Stralsund und Berlin sowie bereits an den Vortagen in
Plauen und Rostock.
24. Oktober: Das SED-Politbüro fasst einen
Beschluss zu "Reisen von Bürgern der DDR in das
Ausland": "1. Der Entwurf des Gesetzes zu Reisen von Bürgern
der DDR in das Ausland und Varianten für die Finanzierung der
Reisen sind dem Politbüro kurzfristig vorzulegen. (...) 2. Zur
breiten Diskussion des Gesetzentwurfes ist eine Argumentation
auszuarbeiten."
26. Oktober: Das MfS zählt allein an diesem
Tag 160.000 Bürger, die auf Demonstrationen in den Bezirken
Rostock, Erfurt, Gera, Schwerin, Chemnitz, Neubrandenburg,
Dresden und Halle vor allem freie Wahlen, die Zulassung der
Oppositionsgruppen und Reisefreiheit fordern. Hat das MfS in der
Woche vom 16. bis 22. Oktober insgesamt 140.000 Teilnehmer auf
24 Demonstrationen registriert, so beteiligen sich vom 23. bis
30. Oktober 540.000 Teilnehmer an 145 Demonstrationen. Die Verhängung
eines Ausnahmezustandes wird von führenden SED-Funktionären
nicht länger ausgeschlossen. – In einem zwanzigminütigen
Telefongespräch mit Bundeskanzler Kohl bekundet
SED-Generalsekretär Egon Krenz sein Interesse, die Beziehungen
zur Bundesrepublik "auf eine - ich darf das wohl so sagen -
auf eine neue Stufe" zu heben. Kanzleramtsminister Seiters
und Staatssekretär Schalck-Golodkowski werden als Vertraute
benannt.
27. Oktober: Der DDR-Staatsrat verkündet
eine Amnestie für alle Flüchtlinge und
Demonstrationsteilnehmer. – Der DDR-Ministerrat beschließt,
die am 3. Oktober verhängte "zeitweilige Aussetzung des paß-
und visafreien Reiseverkehrs" nach der CSSR ab 1. November
1989 aufzuheben. Ab diesem Zeitpunkt sollen DDR-Bürger die
Grenze zur CSSR wieder mit ihrem Personalausweis überqueren können.
31. Oktober: Die USA und die Sowjetunion
vereinbaren für den 2./3. Dezember ein Gipfeltreffen auf Malta.
31. Oktober: Das SED-Politbüro erörtert eine
Vorlage von fünf führenden Ökonomen zur "Analyse der ökonomischen
Lage der DDR mit Schlussfolgerungen". Um der erforderlichen
Absenkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent und der
drohenden Zahlungsunfähigkeit der DDR zu entgehen, empfehlen
sie, der Bundesregierung für die Gewährung dringend
erforderlicher neuer Kredite und eine erweiterte wirtschaftliche
Kooperation als Tauschmittel die Mauer anzubieten.
1. November 1989 (Mittwoch)
|
Bei einem Arbeitsbesuch in Moskau berichtet
Egon Krenz dem KPdSU-Generalsekretär ausführlich über
die schwierige ökonomische Situation der DDR. Er erhält
von Michail Gorbatschow die unmissverständliche Auskunft,
dass sich die Sowjetunion zu einer wirtschaftlichen Hilfe
für die DDR außerstande sieht. Im Hinblick auf die zukünftige
Gestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen macht
Gorbatschow deutlich, dass die deutsche Frage nicht auf
der Tagesordnung stehe; ihre Lösung sei kein Problem der
aktuellen Politik. - Vor seiner Abreise aus Moskau äußert
sich Krenz auf einer Pressekonferenz zur Frage der
Wiedervereinigung. |
Aufgrund des Drucks der Bevölkerung wird der pass- und
visafreie Reiseverkehr von der DDR in die CSSR wieder
zugelassen. Erneut strömen DDR-Bürger in die bundesdeutsche
Botschaft in Prag, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu
erwirken.
Zehntausende demonstrieren in zahlreichen DDR-Städten für Veränderungen,
so zum Beispiel in Neubrandenburg, Frankfurt/Oder, Freital und
Ilmenau.
Dezember 1989
|
1. Dezember: Sitzung der
DDR-Volkskammer: Mit den Stimmen der Fraktion der SED
streichen die Abgeordneten die führende Rolle der SED aus
der DDR-Verfassung. Die Abgeordneten diskutieren über die
Korruption in der SED-Spitze, fragen nach, welche Rolle
der Bereich Kommerzielle Koordinierung dabei spielt. Die
direkt um Auskunft gebetenen Minister Gerhard Beil (Außenhandel)
und Gerhard Schürer (Plankommission) täuschen Unkenntnis
über Schalcks Tätigkeit vor; weder Egon Krenz noch Hans
Modrow stellen sich vor ihn. |
2. Dezember: Beginn einer zweitägigen
Gipfelkonferenz von US-Präsident Bush und Staats- und
Parteichef Gorbatschow auf Malta. Die Deutschland-Frage wird zum
Hauptthema.
3. Dezember: Mitglieder der alten SED-Führung
(Harry Tisch, Günter Mittag, Gerhard Müller und Hans Albrecht)
werden am Morgen in Untersuchungshaft genommen. – Letzte
Tagung des SED-Zentralkomitees: Um sich von der alten Parteiführung
abzusetzen und in der Hoffnung, ihre eigene Position retten zu können,
erzwingen die neugewählten, nicht mehr von oben eingesetzten
Ersten SED-Bezirkssekretäre den Rücktritt von Politbüro und
Zentralkomitee – und von Egon Krenz als SED-Generalsekretär.
Zu Beginn der Sitzung gibt Hans Modrow den vorzeitigen Abgang
eines ZK-Mitglieds bekannt: Alexander Schalck-Golodkowski habe
die DDR in der Nacht zuvor mit unbekanntem Ziel verlassen.
Schalck, der nach West-Berlin geflohen ist und sich am 6.
Dezember der West-Berliner Justiz stellt, hinterlässt einen
Abschiedsbrief, über dessen Inhalt das Zentralkomitee nichts
erfährt. Darin teilt Schalck mit, er habe veranlasst, daß von
ihm teilweise im Ausland angelegte Guthaben der DDR dem
Vorsitzenden des Ministerrates angezeigt würden. Sie seien die
"letzte Einsatzreserve bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit
des Staates, die nach meiner Auffassung Ende dieses Jahres bzw.
Anfang nächsten Jahres eintreten wird (...)."
Um einen sauberen Neubeginn zu ermöglichen, haben mehrere
Erste SED-Bezirkssekretäre vor Beginn der ZK-Tagung die
Annullierung der gefälschten Kommunalwahl vom Mai 1989
gefordert. Egon Krenz weist diese Forderung auf der ZK-Sitzung
zurück.
Für den dramatischen Höhepunkt der letzten Tagung des
SED-Zentralkomitees sorgt der 86jährige Alt-Kommunist Bernhard
Quandt. Weinend tritt er ans Mikrofon und fordert, mit der
"Verbrecherbande des alten Politbüros" abzurechnen
und alle standrechtlich zu erschießen, "die unsere Partei
in eine solche Schmach gebracht haben, daß die ganze Welt vor
einem solchen Skandal steht, den sie noch niemals gesehen
hat."
Am Ende der Sitzung wird ein Arbeitsausschuss gebildet, der
einen außerordentlichen Parteitag vorbereiten soll. Ihm gehören
unter anderem Gregor Gysi, der Dresdner Oberbürgermeister
Wolfgang Berghofer und der frühere Stasi-General und
Spionage-Chef Markus Wolf an.
4. Dezember: Gegenüber Außenminister Genscher
weist Michail Gorbatschow das Zehn-Punkte-Programm als
"Diktat" zurück. - Mit den Besetzungen der Gebäude
der MfS-Bezirksverwaltungen in Erfurt, Suhl und Leipzig beginnt
das Ende der Staatssicherheit.
5. Dezember: Der Generalstaatsanwalt der DDR
leitet gegen Erich Honecker ein strafrechtliches
Ermittlungsverfahren wegen "Vertrauensmissbrauch" und
"Untreue zum Nachteil sozialistischen Eigentums im schweren
Fall" ein, das am 8. August 1990 wegen des "Verdachts
des mehrfachen Mordes" und der "mehrfachen vorsätzlichen
Körperverletzung" erweitert wird. Das Ermittlungsverfahren
geht im Oktober 1990 auf den Generalstaatsanwalt beim Berliner
Kammergericht über. Die SED-Betriebskampfgruppen werden aufgelöst,
der Waffenbestand von der Volkspolizei übernommen.
5. Dezember: Nach Verhandlungen mit der
Bundesregierung gibt die DDR bekannt, daß Visumzwang und
Zwangsumtausch für Westbesucher ab 1. Januar 1990 entfallen
sollen.
6. Dezember: Egon Krenz tritt auch als
Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen
Verteidigungsrates zurück. Eine kurzfristig anberaumte Beratung
des Nationalen Verteidigungsrates kann nicht mehr stattfinden;
das Gremium, dem die Einsatzleitungen auf Bezirks- und
Kreisebene unterstehen und der im Notstandsfall alle exekutiven
und legislativen Befugnisse auf sich konzentrieren kann, ist
verhandlungsunfähig. Egon Krenz war sein letztes Mitglied mit
Staatsfunktion, alle anderen Mitglieder sind von ihren Ämtern
zurückgetreten und befinden sich zum Teil in Untersuchungshaft.
Mit Generaloberst Fritz Streletz ist dem obersten militärischen
Sicherheitsorgan der DDR nur noch der Sekretär erhalten
geblieben.
In einem Vorbereitungspapier hat der ursprünglich als Gast
eingeladene Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit (AfNS),
Wolfgang Schwanitz, einige Hinweise zur Lage erarbeiten lassen.
Die staatliche Sicherheit, heißt es darin, sei "in
bestimmten Bereichen eingeschränkt bzw. nicht mehr gewährleistet.
Das gilt insbesondere für die Staatsgrenze der DDR zur BRD, für
Teile der bewaffneten Organe und die Kampfgruppen. Die
sozialistische Staats- und Rechtsordnung, die staatliche Autorität
werden zunehmend untergraben. Staatliche Organe, besonders auf
Ebene Bezirke und Kreise, zunehmend handlungsunfähig, zum Teil
in Selbstauflösung begriffen. Es mehren sich Tendenzen der
Anarchie und des Chaos. (...) Inhalt und Verlauf von
Demonstrationen in jüngster Zeit zunehmend aggressiver; es wächst
täglich die Gefahr des Umschlagens in nicht mehr
kontrollierbare und Gewalthandlungen; Veranstalter beherrschen
zum Teil nicht mehr die Lage."
|
7. Dezember: Die erste
Sitzung des zentralen "Runden Tisches" in
Ost-Berlin, an der SED, Blockparteien,
Massenorganisationen und Opposition teilnehmen, spricht
sich für Neuwahlen, eine neue Verfassung und die Auflösung
des in "Amt für Nationale Sicherheit (AfNS)"
umbenannten Ministeriums für Staatssicherheit aus. –
Auf einer Leitungsberatung des AfNS vom gleichen Tage heißt
es, die "Zersetzung" und "ernsten Auflösungserscheinungen"
der bewaffneten Kräfte setzten sich fort; die Macht sei
schon nicht mehr nur geteilt: "Die Konterrevolution
formiert sich." |
8./9. Dezember: Beginn eines zweitägigen außerordentlichen
Parteitages der SED. Ein Antrag auf Selbstauflösung der SED
findet keine Mehrheit. Gregor Gysi wird neuer SED-Vorsitzender.
9. Dezember: Auf einem EG-Gipfeltreffen in Straßburg
wird das Recht der Deutschen auf staatliche Einheit anerkannt
– aber dennoch knistert die Luft: Nicht alle europäischen
Nachbarn finden an der Perspektive eines vereinigten Deutschland
Gefallen.
11. Dezember: Wiederum zahlreiche
Montags-Demonstrationen in der ganzen DDR. Die Forderung nach
deutscher Einheit wird im Süden lautstärker erhoben als im
Norden.
12. Dezember: Als Folge der vom Staatsrat
beschlossenen Amnestie werden die ersten Häftlinge
freigelassen. Die Amnestie gilt nicht für Kapitalverbrechen und
andere schwere Delikte.
14. Dezember: Die Modrow-Regierung beschließt
angesichts der anhaltenden Proteste gegen die Staatssicherheit
die Abberufung des Mielke-Nachfolgers Schwanitz aus dem Kabinett
und die Auflösung des AfNS.
16. Dezember: Beginn des zweiten Teils des außerordentlichen
SED-Parteitages. Die Partei benennt sich in SED-PDS (Partei des
demokratischen Sozialismus) um.
19. Dezember: Bundeskanzler Helmut Kohl wird
anlässlich eines Treffens mit Ministerpräsident Hans Modrow in
Dresden begeistert von der Bevölkerung empfangen. Modrow
fordert von Kohl einen "Lastenausgleich" in Höhe von
15 Milliarden DM für die DDR; Kohl lehnt ab, erklärt sich aber
zu Verhandlungen über die Ausgestaltung einer
"Vertragsgemeinschaft" zwischen beiden deutschen
Staaten bereit. - Während einer öffentlichen Kundgebung mit
dem Bundeskanzler bekunden Hunderttausende ihren Willen zur
deutschen Einheit.
In Ost-Berlin findet zur gleichen Zeit eine Kundgebung der
SED-PDS statt. Gregor Gysi spricht sich auf dem Platz der
Akademie für die Eigenständigkeit der DDR und gegen die
Wiedervereinigung aus.
20. Dezember: Im Weihnachtsgeschäft
entwickelt sich der Verkauf von Mauer-Stücken weltweit zum
Renner.
21. Dezember: DDR-Verteidigungsminister
Theodor Hoffmann hebt in seinem Befehl 101/89 für die
DDR-Grenztruppen endgültig und offiziell den Schießbefehl auf.
Es heißt darin: "Die Anwendung der Schusswaffe, mit
Ausnahme zur Abwehr von Angriffen auf das Leben der Angehörigen
der Grenztruppen oder anderer Bürger der DDR, ist zuverlässig
auszuschließen."
22. Dezember: Ministerpräsident Hans Modrow
und Bundeskanzler Helmut Kohl eröffnen unmittelbar am
Brandenburger Tor eine Grenzübergangsstelle.
24. Dezember: Vorgezogener Beginn des
visafreien Verkehrs für Bundesbürger und West-Berliner in die
DDR und nach Ost-Berlin. - Seit dem Abschluss der
Besuchsvereinbarung von 1972 sind 44 Millionen Besuche von
West-Berlinern in Ost-Berlin und der DDR registriert worden.
31. Dezember: Erste gemeinsame deutsch-deutsche
Sylvesterparty am Brandenburger Tor. Nach dem Bau der Mauer 1961
siedelten bis Ende 1989 insgesamt knapp 500.000 DDR-Bürger mit
Genehmigung in die BRD über, 15.287 wurden von der
Bundesregierung "freigekauft", 460.000 flüchteten.
Januar 1990
|
1. Januar: Reisefreiheit in
beide Richtungen: Seit heute können Bundesbürger die DDR
und Ost-Berlin ohne Visum und ohne Zwangsumtausch
besuchen. Daneben ist ein deutsch-deutscher
Reise-Devisenfonds eingerichtet worden; Reisende aus der
DDR können daraus einmal im Jahr bis zu 200 DM
beanspruchen (100 DM zum Kurs 1:1 und weitere 100 DM zu
einem Umtauschsatz von 1:5). |
2. Januar: Die offene Grenze führt schnell
zur Auflösung des staatlichen Außenhandels- und
Devisenmonopols. Kurz nach dem Jahreswechsel fährt Peter Voigt,
ein Erfurter Gemüseeinzelhändler, in Richtung Kassel. Er
entdeckt auf der Rückfahrt in Melsungen einen Großhandelshof
(EDEKA) und fragt an, ob er Ware in D-Mark zum Verkauf in Erfurt
(in D-Mark) beziehen kann. Am 9. Januar erhält Voigt vom Rat
des Bezirkes Erfurt eine "Genehmigung zur Annahme fremder Währungen".
Daraufhin kreditiert ihm EDEKA die Waren auf drei Wochen. Wenige
Tage später werden in der Stadt Südfrüchte gegen D-Mark
verkauft.
|
Der Gemüsehändler Voigt setzt damit sein
Recht auf Gewerbefreiheit noch vor dem Beschluss des
DDR-Ministerrates vom 25. Januar zur Gewährung der vollen
Gewerbefreiheit durch. Genau genommen findet im Erfurter
Gemüseladen von Peter Voigt die Währungsunion schon im
Januar 1990 statt. Der Umtauschkurs beträgt seit den
Weihnachtstagen im freien Handel 1 DM = 7 DDR-Mark. Auch
bundesdeutsche Großunternehmen sowie Banken engagieren
sich zunehmend in der DDR. In Dresden eröffnet die
Dresdner Bank als erstes bundesdeutsches Kreditinstitut
eine Bankfiliale. Wenig später folgen Zweigstellen in
Leipzig und Ost-Berlin. |
3. Januar: Machtlos stehen die Berliner
Grenztruppen den Mauerspechten gegenüber, die das Bauwerk mit
Hammer und Meißel traktieren. "Motiv zum Grenzdienst
fehlt", heißt es auf einer Kommandeurstagung der
DDR-Grenzschützer. "Soldat sagt, was soll ich noch an der
Grenze." Soldaten verkauften während des Dienstes Teile
ihrer Uniform, Offiziere nähmen Geschenke an und wären
betrunken.
Im Berliner Stadtbezirk Treptow wird das sowjetische Ehrenmal
von Unbekannten mit rechtsradikalen und antisowjetischen Parolen
beschmiert. Die SED-PDS nimmt dies zum Anlass, mit einer Groß-Demonstration
gegen "Neofaschismus und Antisowjetismus" für den
Erhalt von MfS- bzw. AfNS-Strukturen als
"Verfassungsschutz" oder "Nachrichtendienst"
einzutreten. – Wirtschaftsministerin Christa Luft, zugleich
stellvertretende Ministerratsvorsitzende, unterrichtet die
Teilnehmer des Runden Tisches über die wirtschaftliche Lage der
DDR, verschweigt jedoch das Ausmaß des sich anbahnenden
Desasters. Die Regierung Modrow wolle zwar auch andere
Eigentumsformen fördern, erklärt Luft, aber grundsätzlich am
"Volkseigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln"
festhalten.
5. Januar: Bürgerkomitees halten weiterhin
ehemalige Bezirksverwaltungen des Ministeriums für
Staatssicherheit besetzt. In Gera erzwingt eine Gruppe von Bürgerrechtlern
den Zutritt zur dortigen MfS-Bezirksverwaltung und übernimmt
die Kontrolle der Akten und Waffenkammern.
Wie das Bundesministerium des Innern bekannt gibt, sind im Jahr
1989 insgesamt 343.854 DDR-Bewohner in die Bundesrepublik übergesiedelt.
Zusätzlich wurden 377.055 deutschstämmige Aussiedler vor allem
aus Polen, der Sowjetunion und Rumänien aufgenommen. Schließlich
erreichte die Zahl der Asylbewerber mit 121.318 eine Rekordhöhe.
8. Januar: In Leipzig findet die erste
Montagsdemonstration des Jahres statt. Ein Meer von
schwarz-rot-goldenen Fahnen beherrscht das Bild. Die Einheit
Deutschlands ist zusammen mit der Parole "Nieder mit der
SED" zur alles beherrschenden Forderung geworden. Eine
Woche später, am 15. Januar, demonstrieren erneut 150.000
Menschen für ein vereinigtes Deutschland. Indessen brechen in
der Stadt wie überall im Land die kommunalen Strukturen
zusammen. Der Oberbürgermeister wird Ende Januar wegen
Wahlbetrug-Verdachts in Untersuchungshaft genommen, die
Stadtverordnetenversammlung löst sich am 26. Januar auf; ein
Runder Tisch lenkt die Geschicke der Stadt mit.
9. Januar: In Sofia beschließt eine
RGW-Tagung den Übergang der Mitgliedsländer zum Handel auf der
Grundlage von frei konvertierbarer Währung. Damit ist das Ende
der osteuropäischen, planwirtschaftlichen
Wirtschaftsgemeinschaft eingeleitet.
10. Januar: Die DDR-Außenhandelsfirma
Limex-Bau Export-Import erhält das Verkaufsmonopol für mehrere
Dutzend Mauersegmente, die an den neu eröffneten Grenzübergängen
demontiert wurden. Innerhalb kürzester Zeit läuft das Geschäft
weltweit auf Hochtouren. Es werden Verkaufserlöse bis zu
500.000 DM pro Segment erzielt, die dem DDR-Gesundheitswesen und
der Denkmalpflege zugute kommen sollen.
11. Januar: In einer Regierungserklärung tut
Ministerratsvorsitzender Hans Modrow kund, dass "eine
Vereinigung von DDR und BRD nicht auf der Tagesordnung"
stehe. Er warnt die Opposition vor einer Demontage seiner
Regierung und begründet mit dem Hinweis auf neonazistische
Aktivitäten die Notwendigkeit eines Nachrichtendienstes und
Verfassungsschutzes. 20.000 Menschen demonstrieren noch am
gleichen Abend gegen diesen Plan.
15. Januar: Ministerpräsident Hans Modrow
bietet den am "Runden Tisch" vertretenen Gruppen der Bürgerbewegung
den Eintritt in seine Koalitionsregierung an. Der
stellvertretende Leiter des Ministerrat-Sekretariats, Manfred
Sauer, informiert den "Runden Tisch" über den Stand
der Auflösung des MfS, jetzt Amt für nationale
Sicherheit". Das MfS habe 85.000 hauptamtliche Mitarbeiter
und 109.500 "inoffizielle Mitarbeiter" gehabt. Die
Sitzung des "Runden Tisches" wird am Abend
abgebrochen, da Tausende von Demonstranten in die MfS-Zentrale
in Berlin-Lichtenberg eindringen und das Gebäude besetzen. Hans
Modrow und Konrad Weiß rufen die Besetzer zu Gewaltlosigkeit
und Besonnenheit auf. – Zur gleichen Zeit folgen in
zahlreichen Städten Hunderttausende einem Aufruf des Neuen
Forum und demonstrieren gegen die Versuche der SED-PDS, die
alten Machtstrukturen zu bewahren. – Am 18. Januar befasst
sich der Runde Tisch mit der Besetzung der Stasi-Zentrale.
Vor dem Hintergrund dieser innenpolitischen Entwicklung in
der DDR entschließt sich Bundeskanzler Helmut Kohl,
Verhandlungen über eine Vertragsgemeinschaft mit der DDR erst
mit einer frei gewählten DDR-Regierung aufzunehmen. Gespräche
mit der Modrow-Regierung sollen nur symbolisch geführt werden,
um die Übersiedlungswelle nicht durch eine förmliche Absage
zusätzlich zu verstärken.
19. Januar: Die TAZ (Ausgabe Bremen) teilt
unter der Überschrift "Abgerüstete Wachhunde werden
versteigert" mit, dass der Deutsche Tierschutzbund der
Bundesrepublik beabsichtigt, rund 2.500 früher an der
innerdeutschen Grenze eingesetzte Wachhunde in den nächsten
Tagen in die Bundesrepublik "überzusiedeln". Die Übersiedlungsaktion
der Vierbeiner sei zustande gekommen, so der Tierschutzbund, da
die überwiegende Zahl der Wachhunde in der DDR nicht in private
Hände vermittelt werden konnten. Es sei schließlich gelungen,
die zuständigen DDR-Behörden davon zu überzeugen, dass die
ehemaligen Wachhunde in der Bundsrepublik von
verantwortungsbewussten Tierfreunden“ übernommen werden. Die
Schäferhunde, Rottweiler und Mischlinge sind kerngesund,
durchschnittlich vier Jahre alt und tiermedizinisch
ausgezeichnet versorgt. Es wird betont, dass die Hunde als
Wachhunde gedient haben und nicht "auf den Mann"
abgerichtet worden sind.
20./21. Januar: Der SED-PDS-Parteivorstand
lehnt die von Teilen der Parteibasis erhobene Forderung nach
einer Selbstauflösung der Partei ab. Daraufhin erklärt der
stellvertretende Parteivorsitzende Wolfgang Berghofer seinen
Parteiaustritt; die SED-PDS, die bereits die Hälfte ihrer einst
2,3 Mio. Mitglieder verloren hat, schrumpft in der Folge weiter.
Die Bezeichnung "SED" im Parteinamen soll gestrichen
und der Händedruck als Parteisymbol abgeschafft werden. Zudem
werden 13 Mitglieder des letzten SED-Politbüros aus der PDS
ausgeschlossen.
21. Januar: Mit Koffern in der Hand marschieren
Zehntausende Bewohner des Eichsfelds in einem Probelauf
("Heute kommen wir noch einmal wieder") über den thüringisch-niedersächsischen
Grenzübergang Worbis - Duderstadt für einige Stunden in den
Westen, um zu zeigen, was passiert, wenn die SED an der Macht
bleibt ("Wenn die SED-Regierung bleibt, geben wir die
Heimat auf").
25. Januar: Ministerratsvorsitzender Hans
Modrow und Bundeskanzleramtsminister Rudolf Seiters bereiten in
Ost-Berlin den für den 13./14. Februar geplanten Besuch Modrows
in Bonn vor. Dem DDR-Bericht über dieses Gespräch zufolge
verdeutlicht Modrow sein Interesse an einem schnellen Abschluss
der Verhandlungen über eine Vertragsgemeinschaft mit der
Bundesrepublik und an wirtschaftlicher Hilfe und beklagt, dass
die Bundesregierung davon abgegangen sei. Er weist Seiters auf
den "Ernst der Lage in der DDR" hin; es bestehe die
Gefahr, "dass die Dinge außer Kontrolle" gerieten.
Seiters erwidert offen, dass an einen Vertrag erst nach freien
Wahlen in der DDR zu denken sei; vorherige Gespräche darüber
setzten das Einverständnis der DDR-Opposition voraus. Die
Bundesregierung erwarte weitere Erleichterungen im
innerdeutschen Reiseverkehr wie die Aufhebung der Passpflicht,
den Wegfall der Zählkarten im Transit, von Zollerklärungen
sowie Kontrollen und Befragungen.
26. Januar: In Moskau findet unter Leitung von
Michail Gorbatschow eine mehrstündige Experten-Krisensitzung
zur Lage in der DDR statt. Es herrscht Einigkeit, dass die DDR
nicht zu halten sein wird. Die Idee einer Sechser-Konferenz zu
Deutschland ("Vier-plus-Zwei") wird ebenso befürwortet
wie die Vorbereitung des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte
aus der DDR.
Im "Wall Street Journal" äußert die britische
Premierministerin Margaret Thatcher, dass eine zu schnelle
Herstellung der deutschen Einheit nicht nur die Position von
Gorbatschow gefährden, sondern auch das wirtschaftliche
Gleichgewicht in der Europäischen Gemeinschaft bedrohen könne.
Bundeskanzler Kohl empfindet das Interview als "ungewöhnlich
unfreundlich".
27./28. Januar: In einer programmatischen Erklärung
versteht das Neue Forum auf einem Kongress in Berlin die
Zweistaatlichkeit als seine politische Chance: "Die
Zweistaatlichkeit Deutschlands ist für uns heute die Chance
demokratischer Selbstverwirklichung und eines eigenen Beitrages
zur demokratischen Entwicklung in Deutschland und Europa."
28. Januar: In Ost-Berlin fällt am Abend die
Entscheidung zur Bildung einer "Regierung der nationalen
Verantwortung", in der alle am Runden Tisch vertretenen
oppositionellen Gruppierungen mit einem Minister ohne Geschäftsbereich
vertreten sind. Der Termin der Volkskammer-Wahl wird
einvernehmlich von Mai auf den 18. März 1990 vorgezogen.
29. Januar: Ministerratsvorsitzender Hans
Modrow berichtet in der Volkskammer, dass sich die
wirtschaftliche Lage der DDR besorgniserregend verschlechtere.
Streiks breiteten sich aus, eine Reihe örtlicher
Volksvertretungen habe sich aufgelöst oder sei nicht mehr
beschlussfähig, im gesamten Staatsapparat greife Unsicherheit
um sich, die Rechtsordnung werde zunehmend in Frage gestellt.
Dem Runden Tisch wird am 29. Januar zudem ein Umweltbericht
der Modrow-Regierung vorgelegt, in dem die ökologische
Situation als äußerst kritisch eingeschätzt wird. Im Raum
Cottbus und in der Region Leipzig-Halle liege die Belastung
durch Schwefeldioxid-, Staub- und Stickoxidemissionen um das
Zehn- bis Zwanzigfache höher als in anderen Regionen der DDR.
Als besonders prekär wird die Sicherheit der DDR-Kernkraftwerke
geschildert. Schon am 22. Januar hatte das Hamburger
Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" eine
Beinahe-Katastrophe im Kernkraftwerk Nord bei Greifswald
gemeldet.
29. Januar: Im Bundesfinanzministerium,
unter der Verantwortung von Staatssekretär Horst Köhler, legt
Ministerialrat Thilo Sarrazin einen Vermerk mit der Überschrift
"Gedanken zu einer unverzüglichen Einbeziehung der DDR in
den D-Mark-Währungsraum" vor. Staatssekretär Köhler ist
nach geheim gehaltenen Gesprächen mit DDR-Finanzexperten
bereits seit Mitte Dezember 1989 davon überzeugt, dass die DDR
finanziell und wirtschaftlich am Ende ist. Von der Öffentlichkeit
unbemerkt wird seit dieser Zeit das Für und Wider einer Währungsunion
im Finanzministerium erörtert. Köhler und Sarrazin verwerfen
das "Stufenkonzept" einer allmählichen Währungsangleichung
über mehrere Jahre hinweg, weil es den Übersiedlerstrom nicht
stoppen könne. Sie plädieren - im Wissen um Risiken wie die
Schockwirkung auf die DDR-Wirtschaft und eine hohe finanzielle
Belastung der Bundesrepublik - für eine schnelle Einführung
der D-Mark in der DDR, die jedoch von zügigen wirtschaftlichen
Reformen begleitet werden müsse.
30./31. Januar: Ministerratsvorsitzender Hans
Modrow informiert Michail Gorbatschow in Moskau über die Lage
in der DDR und trägt sein Konzept "Deutschland - einig
Vaterland" vor, das bei militärischer Neutralität eine
allmähliche Annäherung beider deutschen Staaten vorsieht. Vor
der Presse erklärt Gorbatschow, dass "die Vereinigung der
Deutschen niemals und von niemandem prinzipiell in Zweifel
gezogen wird". Für Bundeskanzler Helmut Kohl ist diese
Reaktion Gorbatschows "ermutigend". Im Rückblick äußert
der sowjetische Partei- und Staatschef, er habe durch diese
Begegnung mit Modrow Klarheit darüber gewonnen, "dass
meine Hauptpartner bei der praktischen Lösung der akuten
Probleme [...] Kohl und Bush sein würden." Wem solle sich
die Bundesrepublik überhaupt noch annähern, habe er sich
damals gefragt, wo ihm doch Modrow vorher anhand von Fakten überzeugend
den unaufhaltsamen Zerfall der DDR geschildert habe.
Ende Januar: Die Ausreisewelle aus der DDR hält
im Januar unvermindert an: Mehr als 70.000 Menschen haben die
DDR in diesem Monat in Richtung Bundesrepublik verlassen.
Daneben besuchten in den ersten vier Wochen des Jahres rund zehn
Millionen DDR-Bürger den Westen und mehr als acht Millionen
Bundesbürger den Osten.
Februar 1990
|
1. Februar: Zurück von
seinem Moskau-Besuch, gibt Hans Modrow in Ost-Berlin eine
Pressekonferenz, auf der er unter der Überschrift
"Deutschland, einig Vaterland" überraschend
einen Vierstufenplan für die deutsche Einheit vorstellt.
Danach soll die Einheit über eine Vertragsgemeinschaft
mit konföderativen Elementen, die Bildung einer Konföderation
von DDR und Bundesrepublik mit gemeinsamen Organen, |
die Übertragung von Souveränitätsrechten beider Staaten an
Machtorgane der Konföderation und schließlich die Bildung
eines einheitlichen deutschen Staates in Form einer Deutschen Föderation
oder eines Deutschen Bundes durch Wahlen erfolgen. Als Reaktion
auf Modrow unterbreitet Finanzminister Theo Waigel am 2. Februar
den Vorschlag, die D-Mark als offizielles Zahlungsmittel direkt
in der DDR einzuführen, weist dabei jedoch auf die Risiken und
"unumgänglichen Anpassungsprobleme" hin.
5. Februar: Die Ende Januar vereinbarte
Bildung einer "Regierung der nationalen Verantwortung"
nimmt Gestalt an. Es werden die von den Oppositionsgruppen am
Runden Tisch benannten acht Kandidaten von der Volkskammer zu
Ministern ohne Geschäftsbereich gewählt.
7. Februar: Das Bundeskabinett beschließt, der
DDR sofortige Verhandlungen über eine Wirtschafts- und Währungsunion
anzubieten. Die steigenden Übersiedlerzahlen und die desolate
wirtschaftliche Lage in der DDR machten das zwingend
erforderlich. Horst Teltschik bringt die Überlegungen für die
Entscheidung später so auf den Punkt: "Wenn wir nicht
wollen, dass sie zur D-Mark kommen, muss die D-Mark zu den
Menschen gehen." Zur Koordinierung und praktischen
Umsetzung wird ein Kabinettsausschuss "Deutsche
Einheit" unter Vorsitz des Kanzlers gebildet.
8. Februar: Wochenlang hat die Modrow-Regierung
versucht, Strukturen des Staatssicherheitsdienstes zu erhalten.
Als Gegenstrategie sind Bürgerkomitees im ganzen Lande
"Sicherheitspartnerschaften" mit der
Staatsanwaltschaft und der Polizei eingegangen, um die MfS-Gebäude
zu kontrollieren, Aktenvernichtungen möglichst zu verhindern
und Selbstjustiz vorzubeugen. Zur besseren Koordinierung dieser
Aktivitäten wird das "Staatliche Komitee zur Auflösung
des ehemaligen MfS/AfNS" gebildet.
Erste Dokumentationen, die die flächendeckende Bespitzelung der
Bevölkerung durch das MfS aufdecken, werden vorbereitet.
In Potsdam erhält die Bevölkerung an mehreren
Februar-Wochenenden Gelegenheit, sich ein eigenes Bild von den
menschenrechtswidrigen Haftbedingungen in der
MfS-Untersuchungshaftanstalt ("Lindenhotel") in der
Otto-Nuschke-Straße (heute Lindenstraße) zu machen.Ehemalige Häftlinge
berichten erschütterten Besuchern der Haftanstalt, welcher
Pein, Ohnmacht und Rechtlosigkeit sie in diesem Gefängnis
ausgesetzt waren.
9. Februar: Die Bundesregierung stellt der
Sowjetunion eine Nahrungsmittelhilfe bis zu einer Höhe von 220
Mio. DM zur Verfügung. Zur Überwindung ernster Versorgungsengpässe
hatte der sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik, Julij
Kwizinskij, Anfang Januar Lieferungsmöglichkeiten von Fleisch,
Fetten und Pflanzenölen angefragt.
10. Februar: Bundeskanzler Helmut Kohl erhält
in Moskau die prinzipielle Zustimmung Michail Gorbatschows für
die Herstellung der deutschen Einheit; die Frage der Bündniszugehörigkeit
eines vereinten Deutschlands bleibt ausgeklammert. Vor der
Presse in Moskau gibt der Bundeskanzler bekannt: "Ich habe
heute Abend an alle Deutschen eine einzige Botschaft zu übermitteln.
Generalsekretär Gorbatschow und ich stimmen darin überein,
dass es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die
Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben
will."
12. Februar: Die Liberalen schließen sich
als letztes der neu entstandenen Parteilager zu einem Wahlbündnis
("Bund Freier Demokraten") für die Volkskammerwahlen
zusammen. Die CDU hat diesen Schritt gemeinsam mit der Deutschen
Sozialen Union (DSU) und dem Demokratischen Aufbruch (DA)
bereits am 5. Februar ("Allianz für Deutschland")
vollzogen. Am 7. Februar haben das Neue Forum, Demokratie Jetzt
und die Initiative für Frieden und Menschenrechte die
Wahlplattform "Bündnis 90" gegründet. Die SED-PDS
hat am 4. Februar offiziell die Bezeichnung "SED"
abgelegt. Die Begründung lautet: "Unsere Partei ist nicht
mehr die SED. Unser Bruch mit der Vergangenheit, unsere
demokratischen Initiativen und Ziele haben uns zu einer neuen
Partei gemacht." Der Runde Tisch beschließt in Ost-Berlin
"Positionen für die Verhandlungen in Bonn". Von der
Bundesregierung soll ein sofortiger "Solidarbeitrag"
in Höhe von zehn bis 15 Milliarden DM gefordert werden. Die
Modrow-Regierung soll nicht über eine Währungsunion
verhandeln, "weil jede überstürzte Regelung zum Schaden
beider deutschen Staaten wäre".
13. Februar: Am Rande der "Open
Skies"-Konferenz von 23 NATO- und Ostblockstaaten in Ottawa
(Kanada) vereinbaren die Vier Siegermächte und die beiden
deutschen Staaten Treffen ("Zwei-plus-Vier-Verhandlungen"),
"um die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen
Einheit, einschließlich der Fragen der Sicherheit der
Nachbarstaaten, zu besprechen", wie es in einem Kommuniqué
heißt.
13./14. Februar: In Begleitung von nicht
weniger als 17 Ministern trifft Ministerratsvorsitzender Hans
Modrow zu Gesprächen mit der Bundesregierung in Bonn ein.
Modrow berichtet Bundeskanzler Kohl über die dramatische
wirtschaftliche Lage der DDR, die vor der Zahlungsunfähigkeit
stehe. Er bittet die Bundesregierung um einen sofortigen
Solidarbeitrag in Höhe von 10 bis 15 Milliarden DM.
Kanzlerberater Horst Teltschik zufolge ist Kohl jedoch
angesichts des drastischen Verfalls der staatlichen Autorität
auf allen Ebenen, des drohenden wirtschaftlichen Kollapses und
noch immer hoher Übersiedlerzahlen nicht daran interessiert,
mit einem hilflosen Modrow vor der Volkskammer-Wahl
Verabredungen zu treffen. Die Bundesregierung will die Bildung
einer demokratisch legitimierten DDR-Regierung nach der
Volkskammerwahl abwarten.
15. Februar: Bundeskanzler Helmut Kohl gibt im
Bundestag eine Regierungserklärung ab: "Noch nie, seit
unser Land geteilt, noch nie, seit unser Grundgesetz geschrieben
wurde, sind wir unserem Ziel, der Einheit aller Deutschen in
Freiheit, so nahe gekommen wie heute." Kohl will die sich
nun bietende Chance mit Umsicht und Entschlossenheit wahrnehmen.
Auf Beschluss des DDR-Ministerrates wird der Fahneneid der
Grenztruppen durch ein Gelöbnis ersetzt. Es lautet: "Ich
gelobe: Der Deutschen Demokratischen Republik allzeit treu zu
dienen und getreu dem Verfassungsauftrag ihre Staatsgrenze
zuverlässig zu schützen."
19. Februar: Der Runde Tisch der DDR lehnt
einen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik nach Art. 23 GG ab
und fordert einen entmilitarisierten Status für ein geeintes
Deutschland.
19./20. Februar: Unter den Augen der Weltöffentlichkeit
beginnt am Abend der Abbau der Berliner Mauer im Bereich des
Potsdamer Platzes im Zentrum Berlins. An ihre Stelle tritt ein
dezenter, etwa zwei Meter hoher grüner Maschendrahtzaun.
20./21. Februar: Die Volkskammer verabschiedet
ein Wahlgesetz für die Volkskammerwahl am 18. März. Die
Abgeordneten sollen "in freier, allgemeiner, direkter und
geheimer Wahl" gewählt werden. Es gibt 15 Wahlkreise, die
sich mit den Bezirken der DDR decken. Es wird nach dem Verhältniswahlrecht
gewählt und es sind keine Sperrklauseln festgelegt.
22. - 25. Februar: Auf einem Parteitag in
Leipzig benennt sich die SDP in SPD um. Ibrahim Böhme wird zum
Parteivorsitzenden, Willy Brandt zum Ehrenvorsitzenden gewählt.
Die deutsche Einheit, so heißt es in dem Wahlprogramm, solle in
drei Stufen (Sozialunion, Währungsunion, Wirtschaftsunion)
hergestellt; und der Vereinigungsprozess nach Art. 146 GG mit
einer Volksabstimmung über eine neue Verfassung abgeschlossen
werden. SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine warnt vor einer zu
schnellen Vereinigung.
24. Februar: Bei einem Gespräch zwischen
Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident George Bush in Camp
David besteht in Bezug auf den "Zwei-plus-Vier-Prozeß"
Einigkeit, dass vor den Verhandlungen mit der Sowjetunion zunächst
ein vertraulicher Konsens zwischen der Bundesrepublik und den
drei Westmächten gefunden werden soll. In Ost-Berlin findet der
1. Parteitag der PDS statt. Unter der Voraussetzung einer
Gleichberechtigung der DDR und der Erhaltung ihrer sozialen
Standards spricht er sich für die Einheit Deutschlands aus. Der
Parteivorsitzende Gregor Gysi warnt jedoch vor einer schnellen
und überstürzten Vereinigung.
26. Februar: Nahmen Anfang des Monats noch
zwischen 70.000 und 100.000 Menschen an den
Montagsdemonstrationen teil, so sind es am Ende des Monats nur
noch rund 10.000. Das Interesse gilt mehr und mehr den
Wahlkampfveranstaltungen.
26. Februar: Im Ministerium für Nationale
Verteidigung der DDR wird der zeitliche Aufwand für den Abbau sämtlicher
Grenzsicherungsanlagen auf rund 1,2 Millionen Mann Arbeitstage
geschätzt. 1.500 Angehörige der Grenztruppen wären damit
sechs Jahre lang beschäftigt.
28. Februar: An diesem Tag, so Gorbatschow später,
sei ihm nach einem Telefonat mit US-Präsident Bush klar
geworden, daß Bush und Kohl die Zugehörigkeit des vereinten
Deutschland zur Nato bereits fest vereinbart hätten. Bis dahin,
so der sowjetische Partei- und Staatschef, habe er gehofft, sich
bei seiner Ablehnung der NATO-Zugehörigkeit auf die Position
Großbritanniens und Frankreichs und anderer europäischer Länder
stützen zu können. Aber außer bei Modrow habe er bei
niemandem Unterstützung gefunden.
Im Februar haben nach offiziellen Angaben 64.000 DDR-Bürger das
Land verlassen. Insgesamt sind seit dem Fall der Mauer etwa
250.000 Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt.
Zudem gibt es einen ungebrochenen Massenansturm von Pendlern und
Besuchern auf den Westen. Am stärksten bekommt das West-Berlin
zu spüren. Hunderttausende
Ostdeutsche und Ost-Berliner überfluten täglich die Stadt, füllen
Verkehrsmittel und Geschäfte, Kinos – und nicht zuletzt die
Bibliotheken. Die West-Berliner Staatsbibliothek ist dem
Benutzerandrang kaum noch gewachsen.
März 1990
|
2. März: Der
DDR-Ministerrat beschließt, die Grenztruppen bis zum
Jahresende in einen zivilen Grenzschutz umzuwandeln und
diesen in das DDR-Innenministerium einzugliedern. Er übereignet
zudem der amerikanischen Bildhauerin Edwina Sandys, einer
Enkelin Winston Churchills, acht Segmente der Berliner
Mauer. Zur Erinnerung an die berühmte Rede ihres Großvaters
im Jahr 1946 in Fulton/USA, in der Churchill die
Entstehung eines "Eisernen Vorhanges" zwischen
den Weltmächten prognostizierte, möchte Edwina Sandys in
Fulton eine Monumentalskulptur aus den Mauerteilen
schaffen. |
Der Chef des Bundeskanzleramtes und die Chefs der Staats- und
Senatskanzleien der Länder beraten, inwieweit die Länder an
den bevorstehenden Verhandlungen mit der DDR beteiligt werden
sollen. Einige Bundesländer befürchten, dass durch die
Einheits-Verhandlungen das föderale System der Bundesrepublik
untergraben wird. Der Bundeskanzler ist in Hochstimmung. In
Chemnitz strömen 200.000 Menschen zu seiner Wahlkampfrede. Bis
zum 15. März erreicht Helmut Kohl mit seinen
Wahlkampfauftritten mehr als eine Million DDR-Bürger.
Auch die führenden Repräsentanten aller anderen West-Parteien
treten in der DDR auf; Willy Brandt, der Ehrenvorsitzende der
DDR-SPD, mobilisiert ebenfalls Zehntausende. Neben dem Streit,
ob die Vereinigung nach Artikel 23 oder 146 des Grundgesetzes
herbeigeführt werden soll, bestimmen Angriffe auf die
SED-Nachfolgepartei PDS den Wahlkampf.
5-6. März: Eine DDR-Regierungsdelegation
reist zu Gesprächen mit Michail Gorbatschow nach Moskau. Wie
kurze Zeit später bekannt wird, fordert
Ministerrats-Vorsitzender Hans Modrow den KPdSU-Generalsekretär
auf, dass sich die Sowjetunion bei den Verhandlungen über die
deutsche Einheit auch in die inneren Aspekte einmischen und für
die Sicherung der DDR-Eigentumsverhältnisse eintreten solle. In
Bonn verständigen sich die Koalitionsparteien darauf, die
Einheit nach Artikel 23 des Grundgesetzes zu vollziehen. Zudem
wird der Entwurf eines Entschließungsantrages zur Oder-Neiße-Grenze
und zur Frage der Reparationen angenommen. Darin ist vorgesehen,
dass nach den Wahlen in der DDR beide deutschen Regierungen eine
gleichlautende Erklärung zur Unverletzlichkeit der Grenzen
gegenüber Polen abgeben. Ein endgültiger Vertrag mit der
polnischen Regierung soll erst durch eine gesamtdeutsche
Regierung abgeschlossen werden.
|
7. März: Auf der letzten
Tagung der Volkskammer vor den Wahlen werden eine Reihe
von Gesetzen verabschiedet. Dazu gehören grundlegende
Wirtschaftsgesetze (u. a. Bildung der Treuhand, Gesetz über
die Gründung privater Unternehmen), ein
Versammlungsgesetz und die Billigung der auf der 15.
Sitzung des Runden Tisches (5. März) verabschiedete
"Sozialcharta". Durch sie soll die Währungs-
und Wirtschaftsunion um einen Sozialverbund erweitert und
damit das Recht auf Arbeit, Wohnen und die Gleichstellung
von Mann und Frau festgeschrieben werden. |
12. März: In Ost-Berlin kommt der Runde
Tisch zu seiner letzten Sitzung zusammen und verabschiedet eine
Abschlusserklärung.
Einer Infratest-Umfrage zufolge wird die SPD die
Volkskammer-Wahl überlegen gewinnen. Danach soll die SPD 44%
der Stimmen erhalten, die CDU 20%, die DSU 5%, der Demokratische
Aufbruch 1%, die PDS 10%, die FDP 2%, die LDP 2%, die Grüne
Partei 1%, die DBD 3% und das Neue Forum 1%.
14. März: Die "Allianz für
Deutschland" kommt kurz vor der Wahl in Turbulenzen. Der
Vorsitzende und Spitzenkandidat des Demokratischen Aufbruchs,
Wolfgang Schnur, wird als Inoffizieller Mitarbeiter der
Staatssicherheit enttarnt. Er wird aus der Partei
ausgeschlossen; sein Nachfolger wird Rainer Eppelmann.
Erst nach der Volkskammer-Wahl, am 22. März, wird bekannt, dass
auch der Vorsitzende der DDR-SPD, Ibrahim Böhme, als
Inoffizieller Mitarbeiter für die Staatssicherheit tätig war.
In Bonn beginnen auf Beamtenebene die Gespräche für die
Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die äußeren Aspekte der
Vereinigung Deutschlands.
|
18. März: Entgegen aller
Vorhersagen gewinnt die "Allianz für
Deutschland" mit 47,8% der Stimmen die
Volkskammer-Wahl. Mehr als 12,2 Millionen Menschen konnten
unter 24 Parteien, politischen Vereinigungen und
Listenvereinigungen wählen. Die Wahlbeteiligung liegt bei
93,39 Prozent. Die SPD erhält 21,8 % und die PDS 16,3 %.
Die Wahlplattform der Bürgerrechtsbewegungen "Bündnis
90" gehört mit nur 2,9 % der Stimmen ebenfalls zu
den Wahlverlierern. |
Der DDR-Schriftsteller Stefan Heym kommentiert das
Wahlergebnis enttäuscht mit den Worten: "Es wird keine DDR
mehr geben. Sie wird nichts sein als eine Fußnote der
Weltgeschichte."
19. März: Die Presse der Bundesrepublik feiert
den Wahlsieg in der DDR als einen Sieg des Kanzlers Helmut Kohl.
Rudolf Augstein, Herausgeber des Hamburger Nachrichtenmagazins
"Der Spiegel", bescheinigt dem Kanzler: "Er
bewies aufs Neue seinen Machtinstinkt, er vertrat die richtige
Sache." Nicht lange zuvor hatte Augstein die
Regierungsmannschaft um Kohl noch als "die Tölpel von
Bonn" bezeichnet.
20. März: Mit dem Wahlausgang geht die Zahl
der DDR-Übersiedler in die Bundesrepublik schlagartig zurück.
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble legt dem Bundeskabinett
einen Gesetzentwurf vor, der das Aufnahmeverfahren in neuer
Weise regelt. Danach sollen zum 1.7.1990 das bislang gültige
Aufnahmeverfahren und der damit verbundene Leistungskatalog
eingestellt werden. Der 1. Juli ist in Regierungskreisen bereits
als Zeitpunkt für die Einführung der Wirtschafts-, Währungs-
und Sozialunion im Gespräch.
22. März: Die konservativen Allianzparteien
und die Liberalen Parteien verständigen sich auf die Bildung
einer Koalitionsregierung. Am 27. März signalisiert auch die
SPD ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit.
31. März: Am Monatsende wird offenbar, wie
stark der Übersiedlerstrom nach der Volkskammer-Wahl zurückgegangen
ist: Im Monat März ließen sich noch 46.000 DDR-Bürger in der
Bundesrepublik als Übersiedler registrieren.
April 1990
|
4. April: Im Bundeskabinett
werden die Empfehlungen des Zentralbankrates der Deutschen
Bundesbank vom 30. März zur beabsichtigten Währungsunion
mit der DDR erörtert. Der Bundeskanzler drängt darauf,
dass die Verhandlungen über die Währungsunion mit der
neuen DDR-Regierung noch vor den geplanten Kommunalwahlen
am 6. Mai abgeschlossen werden. |
Als Termin nennt er den 1. Mai. Es herrscht Einigkeit
darüber, dass die wirklich großen Probleme in der DDR erst
nach der Einführung der Währungsunion beginnen. Vor allem wird
aufgrund der im Verhältnis zur Bundesrepublik geringen
Arbeitsproduktivität in der DDR mit einem raschen Anstieg der
Arbeitslosenzahl gerechnet.
Auf einer Beraterrunde im Kanzleramt schlägt der Sowjetexperte
Boris Meissner vor, der Sowjetunion einen umfassenden
bilateralen Vertrag über Gewaltverzicht und Zusammenarbeit
anzubieten. Deutschland solle damit ein Signal für die zentrale
Bedeutung der beiderseitigen Beziehungen setzen. Kanzlerberater
Horst Teltschik ist von dieser Idee begeistert. Als
Bundeskanzler Helmut Kohl dem sowjetischen Botschafter in Bonn,
Julij Kwizinskij, knapp drei Wochen später die Absicht eines
umfassenden bilateralen Vertrages zwischen der Bundesrepublik
und der UdSSR unterbreitet, reagiert Kwizinskij Teltschik
zufolge "fast euphorisch".
5. April: In Ost-Berlin konstituiert sich die
erste frei gewählte Volkskammer. Zur Präsidentin wird Sabine
Bergmann-Pohl (CDU) gewählt. Das Parlament erteilt Lothar de
Maizière (CDU) als Spitzenkandidaten der stärksten Fraktion
den Auftrag zur Regierungsbildung.
In Bonn bespricht der Bundeskanzler mit Experten des
Finanzministeriums und der Bundesbank die Leitlinien über den
Entwurf eines Staatsvertrages mit der DDR. Es geht maßgeblich
um das Umtauschverfahren der Ost-Mark in D-Mark, die
Umstellungsmodalitäten, die künftigen Befugnisse der
Bundesbank und um klare gesetzliche Regelungen für die neue
Wirtschaftsordnung der DDR. Am darauf folgenden Tag finden erste
Ressortbesprechungen zur Vorbereitung eines "Gesetzes über
die Einführung von Bundesrecht in der DDR (1. Überleitungsgesetz)"
statt.
Der von der Bundesbank vorgeschlagene Umtauschkurs von 2:1 für
Einkommen und Renten sorgt seit Tagen für Unruhe in der DDR-Bevölkerung.
Etwa 100.000 Menschen gehen dagegen in Ost-Berlin, Dresden und
Leipzig auf die Straße. Parolen wie "Eins zu eins – oder
wir werden nicht eins" begleiten die Demonstrationen.
Vielfach wird der Bundesregierung "Wortbruch"
vorgeworfen; befürchtet wird auch der Verlust der
"sozialen Errungenschaften" der DDR.
11. April: Am Abend informiert Lothar de Maizière
den Bundeskanzler telefonisch über den Stand der
Koalitionsverhandlungen und der Regierungsbildung in der DDR.
Das Innenministerium geht an die DSU, das Finanz- und
Arbeitsministerium übernimmt die SPD, die Liberalen kümmern
sich um die Neubildung der Länder und der Demokratische
Aufbruch ist für die Nationale Volksarmee zuständig. Die
"Zwei-plus-Vier-Gespräche" werden von de Maizière
zur Chefsache erklärt. Bereits in der Nacht vom 9./10. April
hat de Maizière per Handschlag Staatssekretäre ernannt, die
unverzüglich mit der Vorbereitung der Amtseinführungen der
verschiedenen Minister beginnen sollen. Staatssekretär im
Ministerium für Abrüstung und Verteidigung (unter Minister
Rainer Eppelmann) wird der Wehrdienstverweigerer Werner Ablaß
(Demokratischer Aufbruch). Als Ablaß den CDU-Chef de Maizière
darauf hinweist, dass er Wehrdienstverweigerer sei, meint de
Maizière lakonisch, dass er damit gute Voraussetzungen
mitbringe, um die NVA zu reformieren. Zur NVA gehören im April
1990 noch 128.000 Soldaten einschließlich der Grenztruppen
sowie 56.000 Zivilbeschäftigte.
12. April: In der Präambel des
Koalitionsvertrages wird erklärt: "Die besondere Lage in
der DDR seit dem 9. November 1989 macht es zur Lösung der
anstehenden Zukunftsaufgaben im Prozess der Vereinigung beider
Teile Deutschlands erforderlich, parteitaktische Interessen zurückzustellen
und eine große Koalition für die Zeit des Zusammenwachsens
beider deutscher Staaten zu bilden." Hauptziel ist die
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion" zum 1. Juli 1990.
Mit 265 zu 108 Stimmen und drei Stimmenthaltungen wählt die
Volkskammer Lothar de Maizière zum Ministerratsvorsitzenden und
bestätigt die Minister seiner Großen Koalition. Vor der Wahl
verliest die Volkskammerpräsidentin eine Erklärung aller
Fraktionen. Darin bekennt sich das Parlament zu Mitschuld und
Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft. Am Ende der Erklärung
wird die Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze bekräftigt.
14. April: Seit Wochen bemühen sich drei in
Berlin lebende Künstler darum, entlang der Mauer eine
Blumenlandschaft zu erschaffen. Sie werben mit Plakaten,
Pressekonferenzen und Bitten um Spenden für die Verwirklichung
der Idee, die ursprünglich vom japanischen Künstler Shinkichi
Tajiri stammt. Shinkichi Tajiri lehrt an der Hochschule der Künste
in West-Berlin; bei seinen Flugreisen nach Berlin ist ihm
aufgefallen, dass sich bei abendlichen Landeanflügen der
erleuchtete Mauerstreifen wie ein hell leuchtendes Band durch
Berlin windet. Er schlägt vor, entlang der Mauer die gelbe,
bittere Lupine anzupflanzen. Am 14. April beginnt die Aktion
"Mauer Land Lupine": DDR-Grenzsoldaten säen zwischen
Brandenburger Tor und Potsdamer Platz insgesamt 10 Tonnen
Lupinensamen ein. Doch der Plan wird von Wildkaninchen und Vögeln
aus Ost- und West-Berlin vereitelt: Sie lassen sich die Aussaat
so gründlich schmecken, dass es nicht zur Blüte kommt.
16. April: Ministerratsvorsitzender Lothar de
Maizière erhält vom sowjetischen Botschafter in der DDR,
Wjatscheslaw Kotschemassow, ein inoffizielles Schreiben (Non-Paper)
der sowjetischen Führung. Darin meldet Moskau Bedenken gegen
einen schnellen Beitritt der DDR nach Artikel 23 des
Grundgesetzes an. Zudem wird noch einmal deutlich gemacht, dass
die NATO-Eingliederung des vereinigten Deutschlands für Moskau
"unannehmbar" sei.
In der neuen DDR-Regierung bestehen ernste Befürchtungen,
dass trotz aller Auflösungserscheinungen die nach wie vor
vorhandenen Strukturen der Staatssicherheit die Regierung
destabilisieren könnten. Gerüchte kursieren, dass Mitarbeiter
der Staatssicherheit in Standorten der sowjetischen Streitkräfte
Unterschlupf gefunden haben und von dort aus Attentate
vorbereiten könnten.
19. April: Die Regierungserklärung von
Lothar de Maizière ist ein Bekenntnis zur Einheit Deutschlands.
Er betont in seiner Erklärung unter anderem: "Die Einheit
muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen
müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfähig sein wie nötig."
24. April: Bundeskanzler Kohl und
Ministerratsvorsitzender de Maizière treffen sich in Bonn und
besprechen die Vorschläge der Bundesregierung für eine Währungsunion
und Fragen eines Staatsvertrages zwischen den beiden deutschen
Staaten. Dem DDR-Ministerpräsidenten wird ein Arbeitspapier für
die Gespräche mit der DDR für einen "Vertrag über die
Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und
Sozialgemeinschaft" übergeben.
25. April: Die Volkskammer lehnt mit 12
Stimmen Mehrheit (179 zu 167) den Antrag der Fraktion Bündnis
90/Grüne ab, den Entwurf einer neuen DDR-Verfassung zu
diskutieren. Den Entwurf hatte die Arbeitsgruppe "Neue
Verfassung der DDR" des Runden Tisches auch über das Ende
der Arbeit dieses Gremiums hinaus erarbeitet und am 5. April
erstmals vorgestellt.
27. April: Die deutsch-deutschen Verhandlungen
über die Herstellung einer Währungs-, Wirtschafts- und
Sozialunion beginnen; Verhandlungsführer sind für die BRD
Bundesbank-Direktor Hans Tietmeyer und für die DDR Staatssekretär
Günther Krause. Grundlage ist ein Papier der Bundesregierung,
das einen Umtauschkurs von 1:1 für Einkommen und Renten sowie für
Bargeld und Sparguthaben pro Kopf bis zu 4.000 Ost-Mark vorschlägt.
27. April: Der Chef der DDR-Grenztruppen,
Generalmajor Dieter Teichmann, unterrichtet den Minister für
Abrüstung und Verteidigung, Rainer Eppelmann, über den Umfang
der Demontage von Grenzsicherungsanlagen.
Abzubauen seien insgesamt 1.476 km vordere und 1.510 km hintere
Sperrelemente (Mauer und Zäune), 716 Beobachtungstürme und Führungsstellen
sowie 845 km Kfz-Sperrgräben; rund 1,7 Mio. Tonnen Material müssten
abtransportiert und wiederaufbereitet oder entsorgt werden. Dafür
seien vier bis fünf Jahre zu veranschlagen.
In Berlin wird mit dem Abriss der Panzermauer am
Brandenburger Tor begonnen. In den zurückliegenden Wochen ist
die Entfernung von Grenzanlagen beschleunigt worden. Abgebaut
sind zwar erst 2,91 km der Grenzmauer 75 (=6,1 %) sowie nur 7,17
km der Mauer in Plattenbauweise (=14 %), dafür jedoch bereits
57,1 km des Grenzsignalzaunes (=77,2 %), 25,9 km Stacheldraht
auf dem Grenzsignal- und Sperrzaun (=86,1 %) und fast 90 % aller
Signalteile auf den unterschiedlichen Zäunen. Auch wurden 62
Beobachtungstürme und Führungsstellen (=31 %) umgelegt und
abgetragen. In Berlin soll die Mauer bis März 1991, im Bezirk
Potsdam bis Ende 1991 verschwunden sein.
28. April: Im vornehmen West-Berliner Hotel
Inter-Continental findet eine Versteigerung von drei
Original-Mauersegmenten statt; zwei stammen vom Checkpoint
Charlie, eins vom Brandenburger Tor. Die DDR-Außenhandelsfirma
"Limex - Bau - Import Export" hat die West-Berliner
"Le Lé Berlin Wall Verkaufs- und Wirtschafts-GmbH"
damit "zum Wohl des Gesundheitswesens und der Denkmalpflege
der DDR" beauftragt. Insgesamt 70 Mauersegmente sollen
"einerseits als historisches Denk- und Mahnmal,
andererseits als zeitgenössisches Kunstobjekt" in Berlin
und auf weiteren Auktionen in Paris und Monaco einem ausgewählten
Personenkreis angeboten werden. Bis zum 25. April soll der
Mauer-Verkauf "Limex" insgesamt 900.000 DM eingebracht
haben.
In der Thüringenhalle in Erfurt versammeln sich rund 1.500
Menschen. Sie gehören zu den Tausenden von
Zwangsausgesiedelten, die innerhalb kürzester Zeit im Mai/Juni
1952 im Rahmen der sogenannten Aktion "Grenze" und
"Ungeziefer" entlang der 1.400 Kilometer langen
innerdeutschen Grenze aus ihren Häusern getrieben wurden. Bis
zum Herbst 1989 herrschte über das Geschehen staatlich
verordnetes Schweigen. Im Saal ist eine übergroße Tafel mit
der Frage angebracht: "Warum?" Erst 1994 erkennt ein
Gesetz die Zwangsaussiedlungen als Unrecht an, aber es fallen
nur diejenigen unter die Rehabilitierungsklausel, bei denen die
Folgen der Zwangsaussiedlung noch "unmittelbar schwer und
unzumutbar fortwirken."
In Dublin wird ein EG-Sondergipfel beendet. Das Misstrauen, das
den Straßburger Gipfel beherrschte, ist ausgeräumt. Der Europäische
Rat befürwortet die Vereinigung Deutschlands. In der Erklärung
heißt es unter anderem: "Wir freuen uns, dass die
Vereinigung Deutschlands unter einem europäischen Dach
stattfindet. Die Gemeinschaft wird dafür Sorge tragen, dass die
Eingliederung des Staatsgebietes der Deutschen Demokratischen
Republik in die Gemeinschaft reibungslos und harmonisch
vollzogen wird."
29. April: Ministerpräsident Lothar de Maizière
trifft zu einem Gespräch mit Partei- und Staatschef Michail
Gorbatschow in Moskau ein. Zwar äußern Gorbatschow und de
Maizière am Ende ihre Zufriedenheit, aber für de Maizière
verläuft der Beginn des Gesprächs überraschend. Zehn Jahre später
berichtet er darüber: "Er kam an und erzählte mir erst
einmal zehn Minuten lang, was er von mir alles erwarte, was ich
zu tun hätte. Als ich dann sagte, er irrte sich, es wären ein
paar (…) Wechsel eingetreten, ich wäre – anders als meine
Vorgänger – nicht mehr zum Befehlsempfang gekommen, sondern
ich stützte mich auf 75 Prozent einer frei gewählten
Volkskammer. Ich wäre bereit, mit ihm über die Dinge zu reden,
die uns gemeinsam interessierten, (…) aber nicht mehr im Sinne
von Befehlsempfang. Da war er ziemlich – also, er ging
ziemlich aus dem Leim. Das habe ich ihm gar nicht zugetraut,
dass er so heftig werden könnte." Das überlieferte Gesprächsprotokoll
vermittelt demgegenüber eine offene und freundliche Atmosphäre,
obwohl Gorbatschow noch einmal seine ablehnende Haltung gegenüber
einer Vereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes und der
NATO-Mitgliedschaft Deutschlands betont.
30. April: Bei einem Gespräch zwischen der
Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl und Bundestagspräsidentin
Rita Süssmuth wird die Bildung eines gemeinsamen
Parlamentsausschusses zur deutschen Einheit beschlossen. In der
gemeinsamen Erklärung betonen die Präsidentinnen: "Die
nun zu treffenden weitreichenden und grundlegenden Beschlüsse für
die Zukunft unseres Volkes bedürfen der gründlichen
parlamentarischen Beratung. Dies ist die Stunde der
Parlamente."
Ende April: 16.000 Menschen haben im April die
DDR verlassen; seit dem Jahresbeginn 1990 sind es über 170.000.
Die Ankündigung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
zum 1. Juli 1990 hat die Abwanderung jedoch eingedämmt.
Mai 1990
|
2. Mai: Beide deutsche
Regierungen geben nach Abschluss der Verhandlungen in
einer gemeinsamen Erklärung bekannt, dass zwischen der
Bundesrepublik und der DDR ein Staatsvertrag zur Einführung
der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion geschlossen
wird, der am 1. Juli 1990 in Kraft treten soll.
Als Voraussetzungen für die Währungsumstellung werden
insbesondere die Gewährleistung der Stabilität der D-Mark und
die Solidität der Staatsfinanzen genannt. Gemeinsame
Zielsetzung sei, dass die soziale Marktwirtschaft in der DDR so
schnell wie möglich eingeführt werde.
|
3. Mai: Ministerratsvorsitzender Lothar de
Maizière gibt in Ost-Berlin als Termin für die Wiedereinführung
der Länder in der DDR den 1. Januar 1991 bekannt. Er
signalisiert damit, dass er im Verlauf des Jahres 1990 nicht
mehr mit gesamtdeutschen Wahlen rechnet. Diese Zeitplanung deckt
sich mit der des Bundeskanzlers, der bis zu diesem Zeitpunkt
gesamtdeutsche Wahlen Ende 1991 abhalten möchte. Doch schon
wenige Tage später – nach dem Sieg der SPD bei den
Landtagswahlen am 13. Mai in Nordrhein-Westfalen und in
Niedersachsen – ist dem Kanzler klar, dass die sich
abzeichnenden Kosten des Vereinigungsprozesses zu einer Last für
die CDU werden und ihre Wahlchancen negativ beeinflussen könnten.
Weil Kohl spürt, dass die Zeit knapp werden könnte, erklärt
er, dass er für eine gesamtdeutsche Wahl schon Ende dieses
Jahres "offen" sei.
5. Mai: In Bonn findet die erste Außenminister-Konferenz
der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die äußeren Aspekte der
deutschen Einheit statt. Während der Gespräche entsteht eine
kritische Situation, als der sowjetische Außenminister Eduard
Schewardnadse eine zeitliche Entkopplung der Verhandlungen über
die äußeren und inneren Aspekte des Vereinigungsprozesses
vorschlägt. Dadurch will die Moskauer Führung vor allem die
NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands verhindern bzw.
Zeit gewinnen. Doch alle anderen Teilnehmer sprechen sich
kategorisch gegen den Vorschlag aus. Am Ende einigen sich alle
auf eine Erklärung, die den Deutschen das Recht auf staatliche
Einheit zubilligt. Zu einem der nächsten Treffen soll auch der
polnische Außenminister eingeladen werden, wenn in den
Verhandlungen Polen betreffende Grenzfragen zur Sprache kommen.
- Abschlusserklärung
der Zwei-plus-Vier-Außenministerkonferenz, 5. Mai 1990
-
-
|
6. Mai: Aus den ersten
freien DDR-Kommunalwahlen geht wiederum die CDU als stärkste
Partei (34,37 %) hervor. Zweitstärkste Kraft ist die
SPD (21,27 %). Auf die PDS entfallen 14,59 Prozent der
Stimmen. Doch für die CDU gibt es gegenüber der
Volkskammerwahl (40,6 %) Stimmenverluste. In Leipzig
etwa ist die SPD mit 35,13 % (Volkskammerwahlen: 26,13
%) Wahl-Sieger. Die CDU erhält 26,79%
(Volkskammerwahlen: 28,69 %). Der große
Stimmeneinbruch findet in Leipzig bei der DSU statt,
die nur noch 4,25 % der Stimmen im Vergleich zu 12,51
% bei den Volkskammerwahlen erhält. Die PDS liegt in
Leipzig mit 13,02 % leicht unter dem
Landesdurchschnitt. |
- Ergebnis
der DDR-Kommunalwahlen vom 6. Mai 1990
8. Mai: In Brüssel wird zwischen der EG und
der DDR ein Handels- und Kooperationsabkommen unterzeichnet. Die
Laufzeit des Abkommens beträgt zehn Jahre. Zudem erklären sich
die EG-Außenminister bereit, die Visumpflicht für DDR-Bürger
bei Reisen in Staaten der EG zum 1. Juli 1990 aufzuheben. An
diesem Tag sollen auch die Kontrollen an der innerdeutschen
Grenze entfallen.
Bei der Staatlichen Versicherung der DDR herrscht aufgrund der
Festlegung des Umtauschkurses von 1:2 für Versicherungen großer
Andrang. In Leipzig bilden sich vor dem Versicherungsgebäude
lange Schlangen, da sich viele ihre Lebensversicherung vor dem
1. Juli auszahlen lassen wollen. Das Spekulationsgeschäft mit
den beiden Währungen boomt vor der Währungsumstellung auf
vielfältige Art und Weise.
10. Mai: Ministerratsvorsitzender Lothar de
Maizière und der West-Berliner Regierende Bürgermeister Walter
Momper vereinbaren auch für Berlin den Wegfall der Kontrollen
an der innerstädtischen Grenze ab Juli 1990.
Seit der Bekanntgabe von Einzelheiten der beabsichtigten Währungs-,
Wirtschafts- und Sozialunion gibt es landesweit Proteste und
auch Streiks. In Leipzig protestieren Lehrer, Kindergärtnerinnen
sowie Beschäftigte der Textil-, Bekleidungs- und Lederindustrie
aus Sorge um ihre Arbeitsplätze und gegen den befürchteten
Sozialabbau. Die DDR-Wirtschaft befindet sich in einer tiefen
Krise; vor allem SPD und PDS warnen vor einem wirtschaftlichen
"Ausverkauf" der DDR. Das Ausmaß der Krise lässt
sich bei einem Treffen der beiden deutschen Finanzminister in
Ost-Berlin nur erahnen: DDR-Finanzminister Walter Romberg ist
nicht in der Lage oder willens, verbindliche Zahlen über die
finanzielle Lage und das Ausmaß der Verschuldung der DDR zu
nennen. Lothar de Maizière berichtet später, dass die
DDR-Regierung bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wusste, wie
sie die Löhne und Gehälter der Staatsbeschäftigten im Sommer
bezahlen sollte.
13./14. Mai: Unter größter Geheimhaltung
fliegt Kanzlerberater Horst Teltschik mit den Bankiers Hilmar
Kopper (Deutsche Bank) und Wolfgang Röller (Dresdner Bank) nach
Moskau, um über die Vergabe eines 5-Mrd.-DM-Kredites an die
Sowjetunion zu verhandeln. Am 4. Mai hatte der sowjetische Außenminister
Eduard Schewardnadse Bundeskanzler Kohl am Rande der
Zwei-plus-Vier-Konferenz auf die Möglichkeit eines 20
Milliarden DM-Kredits mit einer Laufzeit von fünf bis sieben
Jahren zur Überwindung der akuten Versorgungskrise in der
Sowjetunion als Wunsch Gorbatschows angesprochen. Zehn Jahre später
berichtete Horst Teltschik in einem Interview über den Zweck
der geheimen Mission: "Bei dem Gespräch mit Gorbatschow
ging es darum, das war mein Auftrag, ihm deutlich zu machen: Der
Kanzler ist bereit, diesen Kredit zu geben. Aber, wir wollen
auch was dafür haben." Konkret erhoffte sich die
Bundesregierung durch die Vergabe des Kredites ein
Entgegenkommen der Sowjetunion in der Frage der
NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands. "Die
Sowjetunion brauche jetzt Sauerstoff, sie brauche Geld, um die
Wende herbeizuführen", hört Teltschik bei den
Verhandlungen mit Gorbatschow heraus, "sie brauche eine
Schulter."
16. Mai: Zur Finanzierung der Einheit einigen
sich Bund und Länder in Bonn auf die Schaffung eines Fonds
"Deutsche Einheit". Sein Volumen beträgt 115 Mrd. DM,
von denen 95 Mrd. auf dem Kreditmarkt aufgenommen und 20 Mrd.
dem Bundeshaushalt entnommen werden sollen.
18. Mai: In Bonn unterzeichnen die
Finanzminister Theo Waigel und Walter Romberg den Vertrag über
die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion.
Bundeskanzler Helmut Kohl bezeichnet die Unterzeichnung als die
"Geburtsstunde des freien und einigen Deutschlands".
Zugleich verspricht er, dass die Einführung der sozialen
Markwirtschaft für alle in der DDR die Chance, ja sogar die Gewähr
dafür biete, "dass Brandenburg, Sachsen und Thüringen
wieder blühende Landschaften in Deutschland sein werden, in
denen es sich für jeden zu leben und zu arbeiten lohnt."
In ähnlicher Weise äußert sich auch der
Ministerratsvorsitzende Lothar de Maizière; er spricht davon,
dass es niemanden schlechter gehen solle als vorher.
22. Mai: Der sowjetischen Botschaft in Bonn
wird ein Brief Helmut Kohls an Michail Gorbatschow übergeben,
in dem der Kanzler die Bereitschaft der Bundesrepublik zur
Ausreichung eines 5 Mrd. DM-Kredites übermittelt - verbunden
mit Erwartung von konstruktiven Lösungen im
Zwei-plus-Vier-Prozess.
28. Mai: Zöllner, Grenzer und vor allem die
Volkspolizisten der DDR leiden unter ihren Ansehens- und Autoritätsverlusten.
Von der Zeitspanne zwischen dem Mauerfall am 9. November 1989
und der Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990
wird man später als dem "kurzen Jahr der Anarchie"
sprechen.
29. Mai: Beide deutsche Regierungen tauschen
bei Vorgesprächen über einen Einigungsvertrag ihre Positionen
aus. Verhandlungsführer sind Innenminister Wolfgang Schäuble für
die Bundesrepublik und Staatssekretär Günther Krause für die
DDR.
30. Mai: Partei- und Staatschef Michail
Gorbatschow tritt eine Reise in die Vereinigten Staaten an. Bei
seinen Gesprächen in Washington und in Camp David mit US-Präsident
George Bush stimmt Gorbatschow am darauf folgenden Tag überraschend
dem amerikanischen Präsidenten Bush zu, dass alle Staaten gemäß
der KSZE-Schlußakte das Recht haben, ihre Bündniszugehörigkeit
frei zu wählen. Damit akzeptiert Gorbatschow in letzter
Konsequenz, dass ganz Deutschland auch zur NATO gehören kann.
Auf der abschließenden gemeinsamen Pressekonferenz erklärt es
George Bush zum Ziel, dass ein vereinigtes Deutschland
"Vollmitglied der NATO" sein solle. Gorbatschow
widerspricht Bush nicht und bestätigt damit zugleich, dass die
Bündniszugehörigkeit letztlich Sache der Deutschen sei. Die
Sensation ist perfekt und ein grundlegender Durchbruch bei den
weiteren Verhandlungen über die äußeren Aspekte der Einheit
erreicht. "Man kann davon ausgehen, dass von diesem
Augenblick an die durch die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges
entstandene deutsche Frage zu existieren aufhörte,"
kommentierte Gorbatschow später sein Treffen mit Bush. –
Beobachter registrieren, dass bei dem Hubschrauberflug beider
Staatsmänner nach Camp David am 2. Juni US-Präsident Bush an
seinem Handgelenk die "Doomsday"-Aktentasche für das
Startsignal zum Abschuss von Atomraketen trägt, während
Gorbatschows Mitarbeiter das "Chemodantschik", das Köfferchen,
das sowjetische Gegenstück, bei sich hat.
Der DDR-Ministerrat beschließt, dass ab dem 1. Juli in Berlin möglichst
alle durch die Mauer unterbrochenen Straßenübergänge geöffnet
und keine Grenzkontrollen mehr durchgeführt werden sollen.
Westliche Baufirmen sollen um kostenlose Hilfe beim Abriss der
Mauer und der Wiederherstellung der Straßenverbindungen durch
den ehemaligen Todesstreifen gebeten werden.
31. Mai: Die Volkskammer beschließt die Überprüfung,
die treuhänderische Verwaltung und Vorbereitung eines
gesetzlichen Verfahrens für die weitere Verwendung des Vermögens
der Parteien und Massenorganisationen der DDR. PDS und andere
Nachfolger von DDR-Organisationen befürchten nun, dass ihre
Enteignung bevorsteht und versuchen, in unterschiedlichem Maße
Bestandteile ihres Vermögens zu transferieren.
Am Tage zuvor hat die Volkskammer die freie Preisbildung zum 1.
Juli 1990 beschlossen. Konkret bedeutet dies den Wegfall von
Subventionen etwa für Grundnahrungsmittel. Erhalten bleibt
vorerst die staatliche Stützung für Mieten und Pachten sowie für
Verkehrs- und Energietarife.
Juni 1990
|
3. Juni: US-Präsident
George Bush unterrichtet Bundeskanzler Helmut Kohl
telefonisch über den Verlauf der
amerikanisch-sowjetischen Gespräche und die sich nun
bietenden Möglichkeiten bei der Gestaltung der deutschen
Vereinigung. Am nächsten Tag telegrafiert Bush an Kohl:
"In dem Maße, wie wir den sowjetischen
Sicherheitsinteressen außerhalb der 2+4-Gespräche
Rechnung tragen können – in unseren bilateralen
Beziehungen, in Wien und auf den NATO-Gipfeltreffen –,
werden unsere Chancen steigen, dass wir Gorbatschow dazu
bewegen können, ein vereinigtes Deutschland als volles
Mitglied der NATO zu akzeptieren. Er muss wissen, dass die
volle NATO-Mitgliedschaft nicht zur Disposition steht, wir
ihm aber in anderer Weise helfen können." |
5. Juni: Am Ost-Berliner Palast der
Republik, in dem auch die DDR-Volkskammer tagt, wird das
dreieinhalb Meter hohe DDR-Emblem abmontiert.
6. Juni: Schon seit 1986 meint das
Bundeskriminalamt zu wissen, dass Mitglieder der terroristischen
Roten Armee Fraktion (RAF) in der DDR Unterschlupf gefunden
haben. Im Mai 1990 werden Auslieferungsersuchen an die DDR
gestellt. Als erste der gesuchten RAF-Terroristen wird Susanne
Albrecht im Ost-Berliner Stadtbezirk Marzahn verhaftet. Sie wird
dringend verdächtigt, in den 70er Jahren an der Ermordung des
Bankiers Jürgen Ponto und an einem Sprengstoffanschlag auf die
Bundesanwaltschaft in Karlsruhe beteiligt gewesen zu sein. Die
Staatsbürgerschaft der DDR hatte Susanne Albrecht im Jahre 1980
erhalten. Inzwischen trägt sie den Namen Becker, ist
verheiratet, hat ein Kind und arbeitet als Chemielaborantin. Es
folgen bis zum 18. Juni weitere Verhaftungen von untergetauchten
RAF-Terroristen in Magdeburg, Frankfurt/Oder, Senftenberg,
Schwedt und in Neubrandenburg. Für die Einbürgerung, Wohnungs-
und Arbeitsvermittlung der westdeutschen Terroristen hatte die
Staatssicherheit gesorgt.
7. Juni: Der DDR-Ministerratsvorsitzende Lothar
de Maizière nimmt in Moskau an der Tagung des Politischen
Beratenden Ausschusses der Warschauer Vertragsorganisation (WVO)
teil. Es zeigen sich deutliche Auflösungserscheinungen. Bei
seiner Rückkehr bezeichnet er das Treffen als "Beerdigung
erster Klasse". Polen, Ungarn und die CSFR sprechen sich für
eine Auflösung bzw. das Verlassen der Organisation aus. Auch in
der DDR-Delegation herrscht stillschweigendes Einvernehmen darüber,
dass mit der Herstellung der deutschen Einheit die
Mitgliedschaft im Warschauer Vertrag endet. Der ungarische
Ministerpräsident Josef Antall erklärt, dass er die Zukunft
seines Landes in Westeuropa sieht. Im abschließenden Kommuniqué
wird das "ideologische Feindbild" für überwunden
erklärt. "Die konfrontativen Elemente der WVO und der NATO
entsprechen nicht mehr dem Zeitgeist", heißt es.
Zeitgleich, nur einen Tag länger, tagen die NATO-Außenminister
in Großbritannien (Turnberry). In ihrer "Botschaft von
Turnberry" begrüßen die Minister der Allianz die
Moskauer-Erklärung. Sie fühlen sich zu konstruktiver
Zusammenarbeit ermutigt und erklären grundsätzlich: "Wir,
die Außenminister der Allianz, bekunden unsere
Entschlossenheit, die historische Chance zu ergreifen, die sich
aus den grundlegenden Veränderungen in Europa ergibt, um eine
neue europäische Friedensordnung zu schaffen, gegründet auf
Freiheit, Recht und Demokratie. In diesem Geiste reichen wir der
Sowjetunion und allen anderen europäischen Ländern die Hand zu
Freundschaft und Zusammenarbeit."
8. Juni: Die Botschafter der Drei Westmächte
teilen dem Bundeskanzler in einer gemeinsamen Note mit, dass sie
ihre alliierten Vorbehaltsrechte gegen die direkten Wahlen zum
Bundestag in Berlin und gegen das volle Stimmrecht der Berliner
Vertreter im Bundestag und Bundesrat aufheben. Bislang hatte das
Abgeordnetenhaus aufgrund der Vorbehaltsrechte (seit 14.5.1949)
die Berliner Bundestagsabgeordneten nur delegieren können und
sie hatten im Bundestag nur ein beratendes Stimmrecht. Unverändert
bleibt jedoch vorläufig die Haltung der Westmächte, dass die
Westsektoren Berlins kein konstitutiver Teil der Bundesrepublik
sind und durch sie nicht regiert werden dürfen.
9. Juni: Ministerratsvorsitzender Lothar de
Maizière reist als erster DDR-Regierungschef zu einem viertägigen
Besuch in die Vereinigten Staaten. Er wird am 11. Juni vom
amerikanischen Präsidenten Bush zu Gesprächen empfangen.
Hierbei drängt Bush vor allem auf die Zurücknahme des von
DDR-Außenminister Markus Meckel zwei Tage zuvor gemachten
Vorschlages, in Zentraleuropa eine "Pufferzone"
("Sicherheitszone") einzuführen. Bush bemerkt gegenüber
de Maizière, dass dieser Vorschlag "nicht hilfreich"
sei. Doch der Außenminister hat seinen Regierungschef über
seine Initiative gar nicht in Kenntnis gesetzt. Deshalb erwidert
de Maizière, dass er keine Vorschläge unterstütze, von denen
er erstmals aus der Presse erfahre. Am 13. Juni informiert Bush
den Bundeskanzler in einem Brief über sein Treffen mit de Maizière:
"Unsere Gespräche waren sehr freundschaftlich und offen.
Ich fand, dass er ein nachdenklicher, in Staatsgeschäften
unerfahrener Mann ist, aber von ausgeprägtem Sinn für
Verantwortung. Ich sagte ihm, wie hoch ich die Zusammenarbeit
schätze, die er mit Ihnen entwickelt hat."
Kurz zuvor, vom 5. bis zum 8. Juni, besucht Bundeskanzler Kohl
die USA. Er erhält an der Harvard University die Ehrendoktorwürde
und geht in seiner Dankesansprache auf die berühmte Rede von
George Marshall an der Harvard University im Jahre 1947 ein.
Damals hatte Marshall das Wiederaufbauprogramm für Europa
("Marshall-Plan") bekannt gegeben. Kohl bedankt sich für
die amerikanische Hilfe. Am 8. Juni trifft er US-Präsident
George Bush. Dabei stellt der Kanzler noch einmal klar,
"dass für ihn alles indiskutabel sei, was zum Ziel habe,
dass das vereinigte Deutschland außerhalb der NATO
bleibe." Kohl und Bush stimmen darin überein, dass ein
Ausscheiden Deutschlands aus der NATO bedeute, dass in Europa
alles zunichte gemacht wird, was in 40 Jahren erreicht wurde.
Das Gespräch verläuft "äußerst harmonisch" und am
Ende wird dem Kanzler scherzhaft angeboten, "für ihn ein
Bett im Weißen Haus aufzuschlagen, da er jetzt so häufig nach
Washington komme."
11. Juni: Bei der abendlichen Beratung des
Bundeskanzlers überrascht der Chef des Bundeskanzleramtes
Rudolf Seiters die Anwesenden mit der Mitteilung aus Ost-Berlin,
dass noch in dieser Woche in der Volkskammer ein Antrag zum
Beitritt nach Artikel 23 eingebracht werden solle. Die
Initiative kommt von der Fraktion Bündnis 90/Grüne und wird
von der CDU-Fraktion unterstützt. Seiters weiß aber zu
berichten, dass der Vorsitzende der CDU-Fraktion, Günther
Krause, der Initiative von Bündnis 90/Grüne nach Möglichkeit
zuvorkommen will. Der Kanzler erklärt daraufhin, dass zwar
alles gut sei, was den Einigungsprozess beschleunige, der
Staatsvertrag jedoch auf keinen Fall in Gefahr geraten dürfe
und ein Beitritt vor Abschluss der Zwei-plus-Vier-Gespräche
nicht zur Diskussion stehe.
12. Juni: Nach 42 Jahren halten die beiden
Berliner Stadtregierungen (West-Senat und Ost-Magistrat) die
erste gemeinsame Sitzung ab. Die Bürgermeister, Tino
Schwierzina (SPD) für Ost-Berlin und Walter Momper (SPD) für
West-Berlin, kündigen an, dass sie alles tun werden, um die
Einheit in der Stadt zügig wiederherzustellen. Die
Zusammenarbeit beider Verwaltungen soll schleunigst intensiviert
werden. Die Arbeiten zur Wiederherstellung der Straßenverbindungen
zwischen Ost- und West-Berlin, zum größten Teil von
West-Berlin finanziert, schreiten zügig voran.
Am 13. Juni beginnt der Abriss der Grenzmauer in der symbolträchtigen
Bernauer Straße, auch zwischen den Stadtbezirken Mitte und
Kreuzberg sowie Treptow und Neukölln werden Mauersegmente
entfernt.
Den Versuch von Abrüstungsminister Rainer Eppelmann, die Kosten
für den Abriss der Hinterlandmauer auf den Magistrat von
Ost-Berlin abzuwälzen, wehrt der Ost-Berliner Oberbürgermeister
Tino Schwierzina mit der Begründung ab: "Die Berliner
wollten die Mauer nicht. Wir werden nicht eine Mark für den
Abriß zahlen." Am Ende des Monats befiehlt der Kommandeur
des Grenzkommandos Mitte, Oberst Günter Leo, dass sämtliche
innerstädtischen Grenzsicherungsanlagen in Berlin mit Ausnahme
einiger unter Denkmalschutz zu stellender Teile bis zum
31.12.1990 abzubauen sind.
Der Abriß des weitaus längeren Teils der Mauer zwischen Berlin
und dem Bezirk Potsdam ("Außenring") werde allerdings
mehr Zeit beanspruchen. Doch ordnet Leo den Abbau des
Streckmetallgitterzaunes an, nicht zuletzt um ihn "vor
Diebstahl zu schützen".
13. Juni: Volkskammer-Vizepräsident
Wolfgang Ullmann von der Fraktion Bündnis 90/Grüne kündigt
an, dass ein Antrag zum Beitritt nach Artikel 23 gestellt werde,
weil das Grundgesetz die sozialen Belange der Bevölkerung der
DDR besser garantiere als der künftige Staatsvertrag. Aus
diesem Grund solle der Beitritt zum Grundgesetz nach Artikel 23
noch vor Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und
Sozialunion erfolgen. Den Antrag haben fünf Abgeordneten der
Fraktion Bündnis 90/Grüne, drei der SPD und vier der CDU
unterzeichnet. Doch im letzten Moment treten die
CDU-Abgeordneten von ihren Zusagen wieder zurück. Der Antrag
scheitert. Bonn signalisiert, dass ein Beitrittsantrag erst nach
dem 1. Juli gestellt werden solle.
15. Juni: Nach Abschluss der Verhandlungen über
die Regelung offener Vermögensfragen geben die beiden deutschen
Regierungen bekannt, dass die Enteignungen auf
besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage
zwischen 1945 und 1949 nicht mehr rückgängig zu machen sind.
Ansonsten muß in der DDR enteignetes Grundvermögen grundsätzlich
den ehemaligen Eigentümern zurückgegeben werden.
|
17. Juni: Im Ost-Berliner
Schauspielhaus gedenken Abgeordnete des Deutschen
Bundestag und der Volkskammer in Anwesenheit der beiden
Regierungschefs gemeinsam am "Tag der deutschen
Einheit" – dem Gedenkfeiertag des Juni-Aufstandes
in der Bundesrepublik – den Opfern des Volksaufstandes
vom 17. Juni 1953. |
Im Anschluß an die Gedenkstunde debattiert die Volkskammer
in einer Sondersitzung erneut über einen Antrag der DSU auf
sofortigen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gemäß Artikel
23. Die Mehrzahl der Abgeordneten sieht jedoch den
Vereinigungsprozeß durch einen überstürzten Beitritt gefährdet.
Der Antrag wird an den Verfassungs- und Rechtsausschuß
verwiesen.
In der Nacht zum 18. Juni streicht die Volkskammer mit der
erforderlichen Zweidrittelmehrheit die letzten Verfassungsgrundsätze
der alten DDR-Verfassung. Im neuen Gesetz über
Verfassungsgrundsätze ("Gesetz zur Änderung und Ergänzung
der Verfassung") bezeichnet sich die DDR nun als ein
"freiheitlicher, demokratischer, föderativer, sozialer und
ökologisch orientierter Rechtsstaat". Nach Artikel 8 des
Gesetzes ist es nun auch möglich, dass die DDR ihre
Hoheitsrechte beschränken oder auf Einrichtungen der
Bundesrepublik übertragen kann.
Mehrheitlich billigten die Abgeordneten das so genannte
"Treuhandgesetz". Dadurch wird die Privatisierung bzw.
Reorganisation des volkseigenen Vermögens mit Ausnahme
staatlicher oder kommunaler Einrichtungen gesetzlich
festgeschrieben. Ab dem 1. Juli sollen 8.000 Kombinate und
volkseigene Betriebe entflochten und in Kapitalgesellschaften
umgewandelt werden. Bislang hatten sich nur rund 700 Betriebe
als Aktiengesellschaften oder GmbH registrieren lassen. Generell
bedeutet diese Zielsetzung, dass alle Betriebe neu bewertet und
die Bilanzen auf D-Mark umgestellt werden müssen. Die mit der
Durchführung beauftragte Treuhandgesellschaft ist nun eine
Anstalt des öffentlichen Rechts und untersteht direkt dem
Ministerrat. Die erzielten Einnahmen sollen primär für die
Sanierung der Betriebe und erst zweitrangig zur Aufstockung des
Staatshaushaltes verwendet werden.
21. Juni: Mit der erforderlichen
Zweidrittelmehrheit stimmen beide deutschen Parlamente dem 1.
Staatsvertrag – der Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts-
und Sozialunion – zu. Vor der Abstimmung im Bundestag
wiederholt der Bundeskanzler in einer Regierungserklärung noch
einmal die Worte des DDR-Ministerpräsidenten de Maizière:
"Es wird niemanden schlechter gehen als zuvor – dafür
vielen besser." An die Adresse der Bundesbürger gerichtet
erklärt er: "Für das große Ziel der Einheit unseres
Vaterlandes werden auch wir in der Bundesrepublik Opfer bringen
müssen. Ein Volk, das dazu nicht bereit wäre, hätte seine
moralische Kraft längst verloren." Am darauf folgenden Tag
stimmt auch der Bundesrat dem Vertrag zu. Gemäß Artikel 1
bilden die Bundesrepublik und die DDR "beginnend mit dem 1.
Juli 1990 eine Währungsunion mit einem einheitlichen
Wirtschaftsgebiet." Zudem verabschieden beide Parlamente
gleichlautende Entschließungen zur endgültigen Anerkennung der
Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze. Mit dieser
Bundestags-Entschließung, heißt es in der
"Tageszeitung" (TAZ), sei Kanzler Helmut Kohl zur
historischen Größe geworden. Er sei das verkörperte Desaster
der Linken.
22. Juni: In Bonn gibt Regierungssprecher
Hans Klein bekannt, dass die Bundesregierung die Bürgschaft für
einen 5-Mrd. DM-Kredit eines westdeutschen Bankenkonsortiums an
die Sowjetunion übernommen habe. Der Kredit solle dazu
beitragen, "den wirtschaftlichen Reformprozess der
Sowjetunion in einer schwierigen Übergangsphase abzustützen
und auf diese Weise zum Ausbau der deutsch-sowjetischen
Beziehungen, gerade auch im Hinblick auf die deutsche Einheit,
beitragen." – Drei Wochen später informiert
Finanzminister Theo Waigel den Bundeskanzler, dass die
Sowjetunion den Kredit bereits in voller Höhe in Anspruch
genommen habe.
In Ost-Berlin beginnt die zweite Runde der
Zwei-plus-Vier-Verhandlungen der Außenminister. Von
sowjetischer Seite wird vorgeschlagen, dass sich die Truppen
aller Siegermächte etappenweise aus Deutschland zurückziehen
und erst dann Deutschland seine volle Souveränität zurückerhalten
soll. Alle übrigen Verhandlungsseiten sprechen sich für die
Gleichzeitigkeit von äußerer Selbstständigkeit und innerer
Vereinigung aus.
Vor Konferenzbeginn wird in Anwesenheit aller sechs Außenminister
der alliierte Grenzübergang "Checkpoint Charlie"
abgebaut. Der Grenzübergang, der seit dem 22. August 1961 als
Sektorenübergang für Westalliierte, Ausländer und Diplomaten
diente, war zum Symbol des Viermächtestatus von Berlin
geworden.
23. Juni: Im Metropole Palace Hotel in Monte
Carlo findet eine weitere Versteigerung von bemalten
Mauersegmenten statt. Zu diesem Zweck sind sechs Segmente mit
einem Gesamtgewicht von 16 Tonnen in die Hauptstadt des Fürstentums
Monaco transportiert worden. Angeboten werden insgesamt 81
Mauerteile: 70 vollständige Segmente und 11 große Fragmente.
Teile, die am Potsdamer Platz und am Brandenburger Tor
demontiert worden sind, werden als "Schlüsselsteine im längsten
Kunstwerk der Welt", wie es im Auktionskatalog heißt,
angeboten. Käufern wird ein "Echtheits-Zertifikat"
der DDR-Firma Limex-Bau Export-Import übergeben. Die Erlöse
auch dieser Versteigerung, die unter der Schirmherrschaft zweier
Mediziner von der Ost-Berliner Charité steht, sollen dem
Gesundheitswesen der DDR zugute kommen. "Ihre Hilfe",
versichern sie im Vorwort des aufwendig gestalteten
Versteigerungskataloges, "wird zu einer Hilfe für die
Kranken."
26. Juni: Der Minister für Abrüstung und
Verteidigung, Rainer Eppelmann, befiehlt den DDR-Grenztruppen,
mit Inkrafttreten des Staatsvertrages am 1. Juli 1990 "die
Maßnahmen der Grenzüberwachung und der Kontrolle des grenzüberschreitenden
Verkehrs" an der innerdeutschen Grenze und in Berlin
einzustellen (Befehl Nr. 10/90). Aus Angehörigen der
Grenztruppen solle ab 1. Juli einen "Grenzschutz der
DDR" gebildet werden, der dem Innenminister untersteht.
27. Juni: Der DDR-Ministerrat und die
Bundesregierung billigen das gegenseitige Abkommen über die
Aufhebung der Personenkontrollen an der innerdeutschen Grenze
zum 1. Juli 1990. Am 29. Juni erklärt die Bundesministerin für
innerdeutsche Beziehungen, Dorothee Wilms, zur bevorstehenden
Abschaffung der Grenzkontrollen: "Der 1. Juli 1990 ist ein
glücklicher Tag in der deutschen Geschichte. An diesem Tag
fallen nach 45 langen Jahren, für viele fast unerträgliche
Jahre, die letzten Schranken innerhalb Deutschlands, die
Personenkontrollen sind abgeschafft."
29. Juni: Bei einem Festakt in der
Nikolaikirche in Berlin-Mitte erhält der Bundespräsident und
ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin (1981-1984), Dr.
Richard von Weizsäcker, die Ehrenbürgerwürde von ganz Berlin.
30. Juni: Im Lagebericht der bayrischen
Bundesgrenzschutzzentrale wird am Ende des Tages vermerkt:
"Mit Ablauf des 30. Juni wurden die Grenzüberwachung und
die Grenzkontrollen an der innerdeutschen Grenze
eingestellt." Reinhard Killian vom Bundesgrenzschutz und
Uli Schmidt vom DDR-Grenzkommando fahren im Trabi-Kübel nahe
der Grenzübergangsstelle Probstzella die letzte Grenzstreife
gemeinsam.
In einer Fernsehansprache richtet sich Ministerratsvorsitzender
Lothar de Maizière am Abend vor Inkrafttreten der Währungs-,
Wirtschafts- und Sozialunion an die Bevölkerung der DDR. Der
Schritt in die materielle Freiheit solle mit Selbstvertrauen und
Zuversicht gewagt werden. "Lasst uns mutig anfangen. Wir
sollten nicht in erster Linie und vor allem Probleme sehen,
sondern die Chance."
In der Nacht versammeln sich rund 10.000 Menschen auf dem
Alexanderplatz. Schon Stunden vor der Öffnung der neu
eingerichteten Filiale der Deutschen Bank am Alexanderplatz wird
die D-Mark gefeiert. Die Bankfiliale am Alexanderplatz tauscht
als erste – ab Mitternacht – DDR-Mark in D-Mark um.
Juli 1990
|
1. Juli: In vielen DDR-Städten
und -Gemeinden wird der Eintritt in das
"D-Mark-Zeitalter" mit Feuerwerkskörpern, Sekt
und Autohupen euphorisch gefeiert. Lange vor der Öffnung
der insgesamt rund 15.000 Banken, Sparkassen, Postämter
und Sonderauszahlungsstellen stehen vielerorts im Land die
ersten Kunden an. Der größte Bargeldumtausch der
Wirtschaftsgeschichte findet statt. Die am 30. Juni 1990
bei den DDR-Geldinstituten vorhandenen Guthaben in Höhe
von 184,7 Milliarden DDR-Mark werden in 122,8 Milliarden
DM umgestellt. Die Umtauschaktion verläuft zügig und störungsfrei. |
In einer Fernsehansprache bittet Bundeskanzler Kohl die
"Landsleute in der DDR" darum, dass sie jetzt die
Chance ergreifen und "mit Zuversicht nach vorn
blicken"; die Währungsunion sei "der entscheidende
Schritt zur Einheit unseres Vaterlandes, ein großer Tag in der
Geschichte der deutschen Nation". Der Kanzler zitiert den
Satz von Lothar de Maizière, dass es "niemanden schlechter
gehen (wird) als zuvor – dafür vielen besser" und
wiederholt sein Versprechen auf "blühende
Landschaften". Von den Bundesbürgern fordert er, Opfer für
die Einheit zu tragen: "Ein Volk, das dazu nicht bereit wäre,
hätte seine moralische Kraft verloren."
In der innerdeutschen Grenze entfallen die
Personenkontrollen. Offiziell tritt das entsprechende Abkommen
erst nach der Zustimmung des Bundesrats am 6. Juli in Kraft.
Zugleich werden sechs neue Grenzübergänge zwischen der
Bundesrepublik und der Tschechoslowakei eröffnet. Mit der
Aufhebung der Personenkontrollen wird auch das
Notaufnahmeverfahren für Übersiedler aus der DDR eingestellt.
Am 29. Juni 1990 (Freitag), dem letzten Tag, an dem sich DDR-Bürger
im Notaufnahmeverfahren registrieren lassen konnten, werden
bundesweit 14 Übersiedler registriert. Vor den
Volkskammerwahlen am 18. März 1990 gab es wöchentlich noch
15.000 Registrierungsfälle.
2. Juli: Die DDR-Regierungskoalition stimmt
den Fahrplan zur deutschen Einheit ab: Abschluss der
Zwei-plus-Vier-Gespräche und Vorlage des unterschriftsreifen
Einigungsvertrages bis Ende September, Landtagswahlen in der DDR
am 14. Oktober und erste gesamtdeutsche Wahlen am 2. Dezember
1990. Die Verhandlungen über den Einigungsvertrag sollen unverzüglich
beginnen. Am darauf folgenden Tag stimmt die Bundesregierung dem
Fahrplan zu. Doch in den folgenden Wochen kommt es in beiden
Parlamenten zu Diskussionen und heftigen Streitereien um den
Wahlmodus und den Zeitpunkt des Beitritts.
3./4. Juli: In Ost-Berlin findet unter
Beteiligung Polens die sechste Zwei-plus-Vier-Gesprächsrunde
auf Beamtenebene statt. Schwerpunkt ist die Erstellung einer
zwanzig Punkte umfassenden "Inventurliste", in der die
künftig zu behandelnden sicherheitspolitischen
Verhandlungsthemen (unter anderem Verzicht auf ABC-Waffen, Präsenz
sowjetischer Truppen, Veränderungen in der NATO) aufgeführt
werden. Jeder Delegation wird freigestellt, weitere Punkte zur
Aufnahme in diese Liste vorzuschlagen. Zu den polnischen
Vorstellungen über einen Vertrag zur Oder-Neiße-Grenze und
einen Kooperationsvertrag erklärt die deutsche Seite, dass sie
nach der Vereinigung so schnell wie möglich in Verhandlungen über
die vertragliche Ausgestaltung der Beziehungen treten möchte.
6. Juli: In Ost-Berlin beginnt die erste
deutsch-deutsche Verhandlungsrunde über den Einigungsvertrag
(2. Staatsvertrag). Alle Beteiligten bemühen sich den
Einigungsvertrag nicht zu überfrachten. So sollen unter anderem
die Hauptstadtfrage, die Diskussion über eine neue Verfassung
und der Länderfinanzausgleich aus dem Vertrag herausgehalten
werden. Das bisherige DDR-Recht wollen die Verhandlungsseiten überall
dort weiter gelten lassen, wo das Grundgesetz oder EG-Recht dem
nicht entgegensteht. Kontroversen gibt es bei der beabsichtigten
Umstrukturierung der Bundesländer und der künftigen Verteilung
der Stimmen im Bundesrat. Die NATO beendet eine zweitägige
Gipfelkonferenz mit der "Londoner Erklärung". Darin
heißt es unter anderem: "Mit der Vereinigung Deutschlands
wird auch die Teilung Europas überwunden." Dieser
Entwicklung trägt das Bündnis Rechnung und formuliert
programmatisch: Reform der Allianz, Abkehr von
"Vorneverteidigung" und "flexibler
Erwiderung", Veränderung der Strategie und Aufbau neuer
Strukturen. Die NATO erklärt sich bereit, mit den Staaten der
Warschauer Vertragsorganisation (WVO) feierlich zu besiegeln,
dass man einander nicht mehr als Gegner betrachtet und einen
WVO-Botschafter bei der NATO in Brüssel zu akkreditieren.
7. Juli: In der DDR häufen sich Proteste
der Bevölkerung. Das Warenangebot ist unzureichend, ein großer
Teil der DDR-Produkte aus den Regalen verschwunden. Zugleich
verkauft der Einzelhandel die angebotenen Waren zu überhöhten
Preisen. Generell liegt das Preisniveau in der DDR deutlich höher
als in der Bundesrepublik. Wer kann, weicht zum Einkauf nach
West-Berlin oder in die Bundesrepublik aus. In der Presse wird
über Streikbereitschaft bzw. Streiks berichtet: 120.000 Beschäftigte
der Metall- und Elektroindustrie treten in einen Warnstreik. Das
inzwischen geschaffene DDR-Kartellamt droht mit Bußgeldern für
überhöhte Preise bis zu 1 Million DM. Ministerratsvorsitzender
Lothar de Maizière fordert den Handel zur Zurückhaltung bei
der Preisgestaltung auf.
9. Juli: Durch die Umorientierung der
DDR-Verbraucher auf Westprodukte und des Großhandels auf
bundesdeutsche Versorger stehen landesweit Produktionslinien
still bzw. wird auf Halde produziert, da der Absatzmarkt für
ostdeutsche Produkte weggebrochen ist. Löhne und Gehälter können
nicht gezahlt werden: Kurzarbeit und Massenentlassungen drohen.
Mitte Juli liegt die Zahl der Arbeitslosen in der DDR bei etwa
220.000 Beschäftigten. Von Kurzarbeit sind rund 250.000
Menschen betroffen.
9.-11. Juli: In Houston im amerikanischen
Bundesstaat Texas findet der 16. Weltwirtschaftsgipfel der
sieben führenden Industrienationen statt. Das zentrale Thema
des Gipfels ist die finanzielle Unterstützung des Westens bei
der Einführung der Marktwirtschaft in der Sowjetunion bzw. in
ganz Osteuropa. Der von Moskau im Vorfeld gewünschte
Sofortkredit (15 Milliarden US-Dollar) wird jedoch nicht gewährt,
obwohl die Bundesrepublik und Frankreich das sowjetische
Begehren unterstützen. In ihrer gemeinsamen Erklärung begrüßen
die führenden Industrienationen den historischen Wandel in
Europa und den deutschen Vereinigungsprozess. Die zuvor vom
Londoner NATO-Gipfel vorgestellten Handlungsgrundsätze sollen
die Basis für die künftige Zusammenarbeit der einstigen Gegner
bilden. Bush schlägt Gorbatschow ein baldiges Treffen vor. Der
Bundeskanzler empfindet das Treffen als Rückenstärkung und
Bestätigung seiner bisherigen Politik.
14.-16. Juli: Staatsbesuch von Bundeskanzler
Kohl, Außenminister Genscher und Finanzminister Waigel in der
Sowjetunion. In Moskau und in Archys, der kaukasischen Heimat
von Michail Gorbatschow, wird ein historischer Durchbruch bei
der äußeren Absicherung des deutschen Einigungsprozesses
erzielt.
Gorbatschow sagt zu, dass Deutschland nach Abschluss der
Zwei-plus-Vier-Gespräche die volle Souveränität erhält, nach
der Vereinigung Mitglied der NATO bleiben kann und ein vollständiger
Abzug der sowjetischen Truppen erfolgt. Gorbatschows spätere
Begründung für diesen Positionswandel lautet, dass die
Sowjetunion dem deutschen Volk nicht bestreiten konnte, was sie
anderen zubilligte: das Recht auf Selbstbestimmung. Deutschland
habe aus der Geschichte gelernt. Gleichzeitig spitzt sich die
politische und ökonomische Krise der Sowjetunion zu und steigt
die Hoffnung, wenn überhaupt dann von Deutschland
wirtschaftliche Hilfe bekommen zu können.
17. Juli: Auf der dritten Zwei-plus-Vier-Außenministerkonferenz
in Paris wird im Beisein des polnischen Außenministers endgültig
Einvernehmen über die deutsch-polnische Grenzfrage erzielt.
Danach besteht ein künftiges Deutschland aus der
Bundesrepublik, der DDR und Berlin. Nach der Herstellung der
deutschen Souveränität, so die Festlegung, werden die deutsche
und polnische Regierung in einem bilateralen Vertrag die
polnische Westgrenze bestätigen. Die Teilnehmer des Pariser
Treffens gehen ferner davon aus, dass nun alle Kernfragen der
"äußeren Einheit" gelöst sind und ein abschließendes
völkerrechtliches Dokument - vor der "inneren
Einheit" - von den Vier Mächten und den beiden deutschen
Staaten unterzeichnet werden kann.
19. Juli: In den Zulassungsstellen der
Verkehrspolizei herrscht landesweit zum Teil chaotischer
Andrang. Die Kfz-Neuanmeldungen haben seit dem 1. Juli
sprunghaft zugenommen. In Leipzig etwa wurden seit dem 1. Januar
1990 22.000 Anträge gestellt. Davon erfolgten allein 10.000
Antragsstellungen seit dem 1. Juli 1990.
21. Juli: Die britische Rockgruppe Pink Floyd
gibt auf dem Potsdamer Platz in Berlin ein Konzert der
Superlative. Vor mehr als 300.000 Besuchern inszeniert sie auf
dem ehemaligen Todesstreifen ihr Album "The Wall" aus
dem Jahr 1979 als Rockoper.
22. Juli: Mit einer Zweidrittelmehrheit
verabschiedet die Volkskammer das Ländereinführungsgesetz. Zum
14. Oktober sollen an Stelle der 15 DDR-Bezirke die fünf neuen
Länder Brandenburg, Mecklenburg–Vorpommern, Sachsen,
Sachsen-Anhalt und Thüringen gebildet und Landtage gewählt
werden. Im Hinblick auf die gesamtdeutschen Wahlen kommt es zur
Änderung des Parteiengesetzes der DDR. Damit wird der Weg zur
Fusion von Parteien in der DDR mit Parteien in der
Bundesrepublik frei gemacht.
24. Juli: Die DDR-Regierungskoalition beginnt
auseinander zu brechen. Die Liberalen und die SPD fordern
angesichts der politisch instabilen Lage im Land den Beitritt
zur Bundesrepublik noch vor der gesamtdeutschen Wahl sowie ein
einheitliches Wahlgebiet und Wahlrecht (Sperrklauseldiskussion).
Die CDU beharrt demgegenüber darauf, dass die Wahl für das
gesamtdeutsche Parlament in getrennten Wahlgebieten vollzogen
wird und es erst am Tag des ersten Zusammentreffens des neuen
Bundestages zum Beitritt kommt. Als keine Einigung erzielt wird,
treten die Liberalen aus der Regierungskoalition aus. Die SPD
droht mit einem Austritt.
26. Juli:: Die SPD lenkt ein und erklärt ihr
Verbleiben in der Regierungskoalition, nachdem die Ausschüsse
"Deutsche Einheit" des Bundestages und der Volkskammer
sich darauf verständigt haben, dass die gesamtdeutschen Wahlen
am 2.12.1990 im einheitlichen Wahlgebiet mit einheitlichem
Wahlrecht vollzogen werden.
27. Juli: In Berlin seien mittlerweile 25
Prozent der Grenzmauer abgetragen. Das berichtet Oberst Günter
Leo, Kommandeur des Grenzkommandos Mitte, dem Ost-Berliner Oberbürgermeister
Tino Schwierzina. Des weiteren seien 65 Prozent der
Beobachtungsanlagen, 95 Prozent des Signalzauns und 61 Prozent
der Hinterlandmauer demontiert. Um den Abbau weiter zu
beschleunigen, sollen ab August zwei weitere Abbaukommandos mit
je 100 Grenzern eingesetzt werden.
30. Juli: In Ost-Berlin legen
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Staatssekretär Günther
Krause ein Rahmenkonzept für einen gesamtdeutschen Wahlvertrag
vor.
In einer Vorlage des Bundeskanzleramtes für den Bundeskanzler
zur Wirtschaftslage der DDR wird resümiert: "Die DDR
befindet sich jetzt - wie 1948 die Westzonen - auf einer
Durststrecke bei der Überwindung des Erbes aus der
Vergangenheit. Dank massiver öffentlicher und privater Hilfe
von hier und insgesamt vernünftigen Verhaltens der Verbraucher
bestehen aber günstige Voraussetzungen auf spürbare
Besserung." In der DDR-Regierung schätzt man die Lage
derweil dramatisch ein: Es wird befürchtet, dass die DDR das
laufende Jahr weder wirtschaftlich noch finanziell überleben
kann.
August 1990
|
1. August: Einer Übersicht
des DDR-Abrüstungs- und -Verteidigungsministeriums
zufolge sind mit Stand vom 1. August in Berlin mit 16,2
von insgesamt 98,6 km der Grenzmauer und 118 von 215
Beobachtungstürmen und Führungsstellen weniger
Grenzsicherungsanlagen abgebaut worden als bisher
angegeben.
|
Im Stadtbezirk Mitte sind die Abrissarbeiten am weitesten
fortgeschritten; hier soll die Mauer bis Ende August fast vollständig
verschwinden. An der innerdeutschen Grenze sind von den vorderen
Grenzsicherungsanlagen erst 97,7 km (von insgesamt 1.256,5 km
Mauer und Zaun), von den hinteren immerhin 383,7 km (von
insgesamt 1.219,3 km Grenzsignal- und Sperrzaun) demontiert; 77
der 501 Beobachtungstürme und Führungsstellen sind abgebaut.
0Weil die DDR kurz vor dem ökonomischen Kollaps steht,
fliegen Ministerratsvorsitzender Lothar de Maizière und
Staatssekretär Günther Krause kurz entschlossen zu
Bundeskanzler Helmut Kohl, der gerade seinen Urlaub am
Wolfgangsee in Österreich verbringt.
Die DDR könne wirtschaftlich jeden Tag zusammenbrechen, die
Regierung stecke in einer tiefen politischen Krise, so ihre
Botschaft. Die 14 Milliarden DM, die zur Stützung der DDR im 1.
Staatsvertrag für das Jahr 1990 vorgesehen seien, reichten bei
weitem nicht aus. Es würden vielmehr 80 bis 85 Milliarden DM
pro Jahr, vielleicht auch noch mehr gebraucht. Das Land drohe im
Chaos zu versinken. Es seien deshalb umgehend klare Positionen
in Sachen Beitritts- und Wahltermin notwendig.
Nach dem Abschluss der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, so de Maizière,
werde er "die Volkskammer nicht mehr festhalten können."
Es werde unweigerlich zur Selbstauflösung und zum sofortigen
Beitritt kommen. Zurück in Ost-Berlin, gibt Lothar de Maizière
am 3. August auf einer Pressekonferenz bekannt, dass die
gesamtdeutschen Wahlen auf den Termin der DDR-Landtagswahlen am
14. Oktober 1990 vorgezogen würden. Zuvor solle die Volkskammer
den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes erklären.
Den Besuch bei Kohl empfindet de Maizière als persönliche
Niederlage und bezeichnet ihn später als
"Canossa-Gang".
3. August: Vom 1. bis zum 3. August läuft
parallel zu den Verhandlungen über einen Wahlstaatsvertrag auch
die zweite Verhandlungsrunde über den Vertrag zur Herstellung
der deutschen Einheit (Einigungsvertrag). Der erste Entwurf
eines Einigungsvertrages liegt am 6. August 1990 vor.
Der Wahlstaatsvertrag wird kurz nach der Bekanntgabe des
vorgezogenen Termins für gesamtdeutsche Wahlen unterzeichnet.
Nach diesem Vertrag erstreckt sich nun der Geltungsbereich des
Bundeswahlrechts auch auf das Gebiet der DDR. Es ist eine
einheitliche fünfprozentige Sperrklausel vorgesehen; die Zahl
der Bundestagsmitglieder soll sich von 518 auf 656 Abgeordnete
erhöhen. Es werden sogenannte Listenverbindungen von nicht
miteinander konkurrierenden Parteien (Huckepackverfahren)
zugelassen. Über den Wahlvertrag und den vorgezogenen
Wahltermin muss noch in der Volkskammer und im Bundestag
abgestimmt werden.
5. August: In der DDR werden neue Wahlbündnisse
gebildet bzw. es vereinigen sich Parteien der beiden deutschen
Staaten: Bündnis 90, die Grünen der DDR und die Grünen der
Bundesrepublik schließen sich zu einem Wahlbündnis zusammen;
daneben entsteht die Listenvereinigung Linke Liste/PDS. Am
11./12. August vereinigen sich die liberalen Parteien der DDR
und bilden mit der FDP der Bundesrepublik die erste
gesamtdeutsche Partei, die "Freie Demokratische Partei –
Die Liberalen".
Auf einer Gedenkveranstaltung zum 40. Jahrestag der Verkündung
der Charta der Vertriebenen in Bad Cannstatt bekräftigen
Bundeskanzler Helmut Kohl und andere Politiker von CDU/CSU die
Endgültigkeit der polnischen Westgrenze. Das trägt Kohl
Pfui-Rufe und Pfiffe der Vertriebenen ein.
8./9. August: Die Volkskammer lehnt den bereits
am 17. Juni von der DSU eingebrachten Antrag auf sofortigen
Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes ab. Ein
Antrag der SPD, den Beitritt zum 15. September 1990 zu erklären,
findet ebenfalls keine Mehrheit. Die Fraktion CDU/DA beantragt
schließlich, dass die Verfassungsorgane der Bundesrepublik die
Möglichkeit prüfen sollen, ob die Entscheidungshoheit über
den Beitritts- und Wahltermin dem Bundestag übertragen werden
kann. Mit anderen Worten: Die Volkskammer soll dem Bundestag die
Entscheidung überlassen. Die Sondersitzung der Volkskammer
dauert bis in die frühen Morgenstunden des 9. August. Als die
Reihen aller Fraktionen schon deutlich gelichtet sind, findet
die Abstimmung über den Wahlvertrag vom 3. August statt. Die
erforderliche Zweidrittelmehrheit kommt nicht zustande.
Im Bundestag wird am 9. August heftig über die Vorverlegung des
Wahltermins auf den 14. Oktober und die dafür notwendige
Grundgesetzänderung gestritten. Die Grünen wollen
Verfassungsklage einreichen und sprechen von einem
"politischen Skandal". Die Sozialdemokraten, die ihre
Wahlvorbereitungen auf den 2. Dezember ausgerichtet haben, fühlen
sich getäuscht und als Opfer eines Komplotts. Bei der
Abstimmung über den vorgezogenen Wahltermin wird die
erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht erreicht. Als Konsequenz
beschließt das Bundeskabinett am 10. August, dass der 2.
Dezember als Wahltermin bestehen bleiben soll. Einigkeit
herrscht aber darüber, dass die DDR der Bundesrepublik möglichst
bald nach Artikel 23 beitreten soll.
13. August: In Berlin gedenken der Senat und
der Magistrat in einer gemeinsamen Veranstaltung der Opfer der
Mauer.
14. August: Nachdem das DDR-Finanzministerium
am 10. August einen Nachtragshaushalt in Höhe von 10 bis 12
Milliarden DM anmelden musste, nimmt die DDR bei einem
Konsortium von 18 bundesdeutschen Banken einen Kredit in Höhe
von acht Milliarden DM auf.
16. August: Aufgrund anhaltender
Meinungsverschiedenheiten über die Wirtschaftskrise entlässt
Ministerratsvorsitzender Lothar de Maizière mit sofortiger
Wirkung folgende Minister: Walter Romberg (Finanzen; SPD), Peter
Pollack (Ernährung, Land- und Forstwirtschaft; parteilos für
die SPD) sowie Gerhard Pohl (Wirtschaft, CDU). Letzterer geht
auf eigenem Wunsch. Die Entlassungen begründet de Maizière
damit, dass bei der Umsetzung des 1. Staatsvertrages schwere
Fehler bei der Wirtschafts-, Finanz und Landwirtschaftspolitik
gemacht worden seien. Pollack wirft er Konzeptionslosigkeit vor.
Außerdem wird Justizminister Kurt Wünsche (parteilos, früher
LDP) wegen seiner blockpolitischen Vergangenheit entlassen. Wünsche
war schon unter dem SED-Chef Walter Ulbricht Justizminister und
stand deshalb seit Längerem im Kreuzfeuer der öffentlichen
Kritik. Er reicht wie Pohl seinen Abschied ein. Die Aufgaben der
Minister werden von Staatssekretären wahrgenommen.
19. August: Die DDR-Regierungskrise spitzt sich
weiter zu. Als Reaktion auf die Kabinettsumbildung beschließt
die SPD-Fraktion, dass sich alle ihre Minister und Staatssekretäre
aus der Regierung de Maizière zurückziehen sollen. Diese
Entscheidung wird am 20. August von den betroffenen Ministern
verkündet. Regine Hildebrandt (Arbeit und Soziales), Frank
Terpe (Forschung und Technologie), Sibylle Reider (Handel und
Tourismus), Emil Schnell (Post) und Markus Meckel (Auswärtige
Angelegenheiten) treten zurück. Die Amtsgeschäfte werden von
Ministerpräsident de Maizière (übernimmt Außenministerium),
Gesundheitsminister Kleditzsch (übernimmt Arbeit und Soziales),
Bildungsminister Meyer (übernimmt Forschung und Technologie)
sowie neu ernannten Staatssekretären weitergeführt. Ohne die
SPD verfügt die Regierung de Maizière in der Volkskammer nicht
mehr über die erforderliche Zweidrittelmehrheit zur Verfassungsänderung
und damit zur Verabschiedung des Einigungsvertrages.
20. August: Im Auftrag von Ministerpräsident
Lothar de Maizière sind in den zurückliegenden Wochen immer
wieder auf deren Bitten hin Mauersegmente an Einrichtungen im
In- und Ausland verschenkt worden, so etwa an das Haus der
Geschichte in Bonn, das Museum Haus am Checkpoint Charlie, das
Deutsche Historische Museum, aber auch an die Regierung
Lettlands, die Allunion der bildenden Künstler der Russischen
Sowjetrepublik oder das Bundesland Bayern. Auch die John F.
Kennedy Library gehört zu den Begünstigten. Sie erhält das
Mauersegment A 8 – versehen mit einem Echtheitszertifikat.
Um die DDR-Regierung von solchen Anfragen zu entlasten, erhalten
mit dem heutigen Tag die DDR-Grenztruppen die
Entscheidungsbefugnis über die kostenlose Vergabe von
Mauersegmenten. Als Entscheidungshilfe wird ihnen vom Abrüstungsministerium
genannt: "Handelt es sich eindeutig um eine gemeinnützige
und nichtkommerzielle Nutzung von Mauerteilen wie zum Beispiel
ständige Ausstellungen, Aufstellung in Museen oder ähnliches
und entstehen dadurch für die Rekultivierungsformationen des
Ministeriums für Abrüstung und Verteidigung keine zusätzlichen
Kosten, ist grundsätzlich positiv über eine unentgeltliche Übergabe
von Mauerteilen zu entscheiden."
Nach nur fünf Wochen Amtszeit tritt Reiner Gohlke, ehemals Chef
der Deutschen Bundesbahn, von seinem Posten als Präsident der
Treuhandanstalt zurück. Gohlke nennt als Gründe das
"Chaos" in der DDR-Wirtschaft, die großen
Schwierigkeiten bei der Privatisierung und interne Differenzen.
Bis zum Rücktritt Gohlkes haben sich lediglich für 15
DDR-Unternehmen Käufer gefunden. Nachfolger wird der Jurist,
Sozialdemokrat und Sanierungsspezialist Karsten Rohwedder, dem
es schließlich gelingt, die Treuhand im Herbst 1990 arbeitsfähig
zu machen.
In Bonn beginnt die dritte Verhandlungsrunde über den
Einigungsvertrag. Die SPD-nahe "Frankfurter Rundschau"
hat zwei Tage zuvor "das Scheitern des Vertrages"
vorhergesagt. Wichtige Punkte wie die Zustimmung der Volkskammer
zum Wahlvertrag sind noch immer offen.
21. August: Der nun in Personalunion agierende
Ministerpräsident und Außenminister Lothar de Maizière
versucht, mit den Spitzen der Volkskammerfraktionen den Beitritt
der DDR zum 14. Oktober zu vereinbaren. Sein Vorstoß scheitert
am Veto der SPD-Fraktion, die am 15. September als
Beitrittstermin festhält. Dagegen sind auch Bündnis 90/Grüne
und die PDS. Innerhalb der SPD-Fraktion kommt es zum Streit über
den Beitrittstermin. SPD-Fraktionschef Richard Schröder erklärt
aufgrund der parteiinternen Konflikte seinen Rücktritt. An
seine Stelle tritt der SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse.
22. August: Bundeskanzler Helmut Kohl
telefoniert mit dem amerikanischen Präsidenten George Bush. Bei
diesem Gespräch spielt die deutsche Einheit kaum noch eine
Rolle. Es geht um militärische Fragen, die mit der am 2. August
erfolgten Besetzung Kuwaits durch den Irak zu tun haben.
22./23. August: In der DDR-Volkskammer wird
erneut über den Wahlvertrag diskutiert. Der PDS-Vorsitzende
Gregor Gysi kritisiert das Vorgehen: "Ich empfinde es als
eine Missachtung, wenn ein gleiches Gesetz wieder vorgelegt
wird, nur in der Hoffnung, dass mehr Abgeordnete anwesend sind
und deshalb eine Mehrheit erreicht würde, die beim letzten Mal
nicht erreicht worden ist." Gysis Forderung nach
Neuverhandlung des Wahlvertrages wird abgelehnt. Bei der
namentlichen Abstimmung erhält der Wahlvertrag im zweiten
Anlauf schließlich die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Am
Tag darauf verabschiedet der Bundestag das Wahlgesetz für die
gesamtdeutschen Wahlen und am 24. August gibt der Bundesrat
seine Zustimmung zum Wahlvertrag.
Nach der Abstimmung zum Wahlvertrag beantragt Regierungschef
Lothar de Maizière die Einberufung einer Sondertagung der
Volkskammer. Es soll über den Antrag der DSU auf sofortigen
Beitritt und der Antrag der Fraktion CDU/DA über einen Beitritt
am 14. Oktober abgestimmt werden. Die Sitzung wird noch für den
gleichen Abend, 21.00 Uhr, einberufen. Der Antrag der DSU wird
abgelehnt und der Antrag der CDU/DA dahingehend verändert, dass
nun der Beitritt mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 vollzogen
werden soll. Diesem Abänderungsantrag schließen sich CDU/DA,
FDP und SPD an.
In der nächtlichen Abstimmung – es ist schon der 23. August
– beschließt die Volkskammer mit 294 zu 62 Stimmen "den
Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes
mit der Wirkung vom 3. Oktober 1990." Gleich nach der Verkündung
des Abstimmungsergebnisses, um 2.47 Uhr, gibt der
PDS-Vorsitzende Gregor Gysi eine persönliche Erklärung ab:
"Frau Präsidentin! Das Parlament hat soeben nicht mehr und
nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen
Republik zum 3. Oktober 1990 (stürmischer Jubel bei CDU/DA, DSU
und zum Teil bei der SPD) beschlossen." Die
Volkskammersitzung wird um 3.00 Uhr morgens geschlossen.
Im Bundestag gibt Bundeskanzler Helmut Kohl eine
Regierungserklärung zum Beitrittsbeschluss der Volkskammer ab.
Kohl betont, dass die Volkskammer mit ihrem Abstimmungsergebnis
nun alle in die Pflicht genommen hat: "Der heutige Tag ist
ein Tag der Freude für alle Deutschen."
Genau genommen wäre ein Einigungsvertrag gar nicht mehr nötig,
da mit dem Beitritt der DDR das bundesdeutsche Recht per Überleitungsgesetz
in Kraft gesetzt werden könnte. Beide Seiten sind sich aber
einig, dass die noch offenen Probleme aus
politisch-psychologischen Gründen gelöst werden sollen.
Die Volkskammer beschließt, dass - anders als im
Einigungs-Vertragsentwurf vorgesehen – die Akten der
Staatssicherheit auf dem Gebiet der DDR gelassen werden sollen.
Grundsätzlich wird die Vernichtung der Akten verboten. Jeder Bürger
soll das Recht auf Auskunft, nicht aber auf persönliche
Einsichtnahme in die Akten haben.
Bundeskanzler Helmut Kohl spricht vor der CDU/DA-Fraktion der
Volkskammer in Ost-Berlin. Er ist sichtlich bewegt und fordert
die Abgeordneten auf, Kurs zu halten. Die CDU dürfe keine
Politik betreiben, bei der man sich nach dem Wind drehe; wer
"Hahn auf dem Kirchturm sein wolle", so der Kanzler, müsse
"jeden Wind ertragen."
30./31. August: Gegen 16.30 Uhr beginnt in Bonn
die vierte Verhandlungsrunde zum Einigungsvertrag. In der
Abtreibungsfrage wird der Kompromiss erzielt, das bisherige
unterschiedliche Recht in beiden deutschen Staaten für zwei
Jahre beizubehalten und in dieser Zeit eine Lösung zu finden.
Bei Eigentumsfragen soll der Grundsatz "Rückgabe vor
Entschädigung" gelten. Am 31. August, um 2.08 Uhr morgens,
wird der Einigungsvertrag paraphiert. Die beiden
Regierungskabinette billigen den Vertrag am Vormittag. Am Mittag
unterzeichnen die beiden Verhandlungsführer Wolfgang Schäuble
und Günther Krause im Ost-Berliner Kronprinzenpalais den
letzten, rund 1.000 Seiten umfassenden, deutsch-deutschen
Vertrag.
September 1990
|
4. September: "Das
Gesetz über den Umgang mit den Stasi-Daten vom 24.8.1990
muss in vollem Umfang Bestandteil des Einigungsvertrages
werden": Um dieser Forderung Gehör zu verschaffen,
besetzen DDR-Bürgerrechtler am 4. September 1990 mehrere
Räume in der ehemaligen Zentrale der
DDR-Staatssicherheit. Damit protestieren sie gegen die im
Einigungsvertrag getroffene Regelung, derzufolge die
Aufbewahrung, Nutzung und Sicherung der MfS-Unterlagen
aufgrund der erheblichen Eingriffe in bundesdeutsche
Grundrechtspositionen nach der Vereinigung gesetzlich
umfassend neu festgelegt werden sollen. |
5. September: Im Bundestag findet die erste
Lesung des Einigungsvertrages statt. Bundesinnenminister
Wolfgang Schäuble betont in seiner Rede, dass der
Einigungsvertrag aufgrund seiner Regelungsbreite und der
vorgenommenen rechtlichen Vereinheitlichungen in der
Rechtsgeschichte "ohne Beispiel" ist.
6. September: In Anwesenheit von Bundespräsident
Richard von Weizsäcker behandelt die Volkskammer den
Einigungsvertrag in erster Lesung. Ministerpräsident Lothar de
Maizière hebt in seiner Einschätzung des Vertragswerkes vom
31. August unter anderem hervor, dass es hinsichtlich der Akten
der Staatssicherheit inzwischen schon Gespräche und Absprachen
in Form eines Briefwechsels gegeben hat. Die Nachbesserungen
("Präzisierungen") bezeichnet er als
"zufriedenstellende" Lösung.
Die Bürgerrechtler dagegen empfinden die zwischen Bonn und
Berlin ausgehandelten Nachbesserungen als unbefriedigend und
setzen ihre Protestaktion fort. Obwohl DDR-Innenminister
Peter-Michael Diestel den Stasi-Besetzern mit Anklagen wegen
Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Siegelbruch droht,
kommt es landesweit zu Solidaritätsbekundungen. In Erfurt,
Leipzig, Dresden und Rostock werden ebenfalls Mahnwachen
organisiert.
10. September: Der Termin für die
Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages durch die Außenminister
der beteiligten Staaten ist für den 12. September in Moskau
festgelegt, doch noch wird zwischen Bonn und Moskau heftig um
den Preis gefeilscht. Der sowjetische Partei- und Staatschef
Michail Gorbatschow hat am 7. September in einem Telefonat mit
Bundeskanzler Helmut weitere finanzielle Kompensationen
verlangt. 11 bis 12 Mrd. DM, so Bundeskanzler Helmut Kohl, sei
die Bundesregierung bereit, für Stationierung, Abzug und
Unterbringung der sowjetischen Streitkräfte zu zahlen.
Doch Michail Gorbatschow fordert 15 bis 16 Mrd. DM. Und wenn die
Bundesregierung auf die sowjetischen Forderungen nicht eingehe,
droht der KPdSU-Chef, "müsse nun praktisch noch einmal
alles von Anfang an verhandelt werden." Das Scheitern der
Zwei-plus-Vier-Verhandlungen vor Augen, erhöht Kohl an diesem
Tag das Angebot um einen zinslosen 3-Mrd.-DM-Kredit. Erst jetzt
ist das letzte Hindernis beseitigt und die sowjetische
Unterschrift unter den Zwei-plus-Vier-Vertrag gesichert.
12. September: In Moskau unterzeichnen die Außenminister
der Bundesrepublik, der DDR und der Vier Mächte den
"Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf
Deutschland”. Darin verzichten die Besatzungsmächte auf ihre
mit dem Zweiten Weltkrieg verbundenen Rechte und
Verantwortlichkeiten in Berlin und in Deutschland als Ganzes.
Deutschland erhält die souveränen Rechte über seine inneren
und äußeren Angelegenheiten, bestätigt den endgültigen
Charakter seiner Grenzen und verpflichtet sich unter anderem,
keine Angriffskriege zu führen und die Bundeswehr auf eine
Personalstärke von 370.000 Mann zu verringern. Daneben wird der
Abzug der 350.000 Soldaten der Westgruppe der sowjetischen
Streitkräfte bis 1994 vereinbart.
Dem Vertrag wird ein Brief der beiden deutschen Regierungen
an die vier Siegermächte beigefügt. Darin bestätigen die
beiden deutschen Außenminister die Gültigkeit der
besatzungsrechtlichen Enteignungen zwischen 1945 und 1949, den
Denkmalschutz für die Opfer des Krieges und der
Gewaltherrschaft sowie die Anpassung völkerrechtlicher Verträge
der DDR im Sinne der Interessen der beteiligten Staaten.
Der amtierende DDR-Außenminister und Ministerpräsident
Lothar de Maizière gibt in Moskau eine Erklärung zum
Vertragsabschluss ab. Zeitgleich mit der Unterzeichnung in
Moskau äußert sich auch Bundeskanzler Kohl in der Sitzung des
Bundeskabinetts zum Vertragsabschluss in Moskau.
In Ost-Berlin tagt der DDR-Ministerrat. Alle Beschlüsse
dieser Sitzung können noch in den Einigungsvertrag einfließen.
Einer der Tagesordnungspunkte ist das Nationalparkprogramm, dem
ein neues Naturlandschaftskonzept zugrunde liegt. Der
Staatssekretär des Landwirtschaftsministeriums moniert, dass
keine Zeit gewesen sei, die Vorlage für das
Nationalparkprogramm zu beurteilen. Kurzer Hand wird der
Tagesordnungspunkt gestrichen. Es gelingt jedoch, diese
Entscheidung rückgängig zu machen. Das Nationalparkprogramm
bleibt auf der Tagesordnung. Die Ministerratssitzung endet
dennoch ohne einen Beschluss über das Programm, da der
Umweltminister in der Volkskammer den Beschäftigten des
Unternehmens SERO, Glas-, Rohstoff- und Papierrecycling, Rede
und Antwort stehen muss. Bei seiner Rückkehr geht der
Ministerrat gerade auseinander. Es gelingt ihm noch einmal, alle
Minister zu versammeln und das Nationalparkprogramm in buchstäblich
letzter Sekunde verabschieden zu lassen. So können 10 Prozent
der Fläche der DDR zu Nationalparks, Biosphärenreservate oder
Naturparks erklärt werden. Das Hamburger Nachrichtenmagazin
"Spiegel" bezeichnet das Ganze als einen
"weltweit einmaligen Ökodeal" und der damalige
Bundesumweltminister erklärt die im Nationalparkprogramm unter
Schutz gestellten Landschaften wenig später zum
"Tafelsilber der deutschen Vereinigung".
Da hinsichtlich des Umgangs mit den Staatssicherheits-Akten noch
immer keine Einigung erzielt worden ist und die Umsetzung der
Regelungen des Gesetzes vom 24. August nach wie vor nicht
garantiert wird, treten die Besetzer in der Normannenstraße in
den Hungerstreik. Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forum,
erklärt in einem Interview: "Das Gesetz ist sehr
detailliert von dem Ausschuss der Volkskammer ausgearbeitet
worden. Ich halte das für unmöglich, dass mit ein paar dahin
gewischten Bemerkungen aus Bonn bessere Lösungen kommen können.
Das ist unsere schmutzige Wäsche und unser Mief – den müssen
wir selber ausräumen."
18. September: Die beiden Verhandlungsführer
des Einigungsvertrages, Wolfgang Schäuble und Günther Krause,
unterzeichnen eine Vereinbarung zur Durchführung und Auslegung
des Einigungsvertrages vom 31. August. Im Artikel 1 findet sich
ein Kompromiss hinsichtlich des weiteren Umgangs mit den
MfS-Akten.
Das Verfassungsgericht in Karlsruhe weist eine Klage von acht
Bundestagsabgeordneten der CDU/CSU gegen den Einigungsvertrag
ab. Mit der Klage wollten die Abgeordneten verhindern, dass die
polnische Westgrenze völkerrechtlich endgültig festgeschrieben
und damit anerkannt wird.
20. September: In beiden deutschen Parlamenten
wird über den Einigungsvertrag abgestimmt. 299
Volkskammer-Abgeordnete stimmen für den Vertrag; es gibt 80
Gegenstimmen und eine Stimmenthaltung. Im Bundestag votieren 440
Abgeordnete für den Einigungsvertrag; es werden 47 Gegenstimmen
und drei Stimmenenthaltungen gezählt. Am darauf folgenden Tag
stimmt der Bundesrat dem Vertragswerk einstimmig zu. Die
Ratifikation des Einigungsvertrages durch den Bundespräsidenten
erfolgt am 23. September 1990.
In der Volkskammer sorgen die Akten des
Staatssicherheitsdienstes weiterhin für Aufregung. Die Besetzer
aus der Normannenstraße sind mit dem am 18. September
ausgehandelten Kompromiss nicht zufrieden. Es fehlt noch immer
eine klare Regelung über den Zugang der Betroffenen zu ihren
Akten; zudem wurde die Rehabilitierung der Opfer nicht
festgeschrieben. Sechs Besetzern gelingt es, sich Zugang zur
Plenardebatte der Volkskammer zu verschaffen und das Podium zu
besetzen. Es kommt zu tumultartigen Auseinandersetzungen. Schließlich
erhält einer der Besetzer, Reinhard Schult, die Erlaubnis zu
sprechen. Er verlangt die sofortige Offenlegung der Verstrickung
der Volkskammer-Abgeordneten mit der Staatssicherheit. Es könne
nicht sein, so Schult, dass Mitarbeiter und Informanten der
Staatssicherheit über den Einigungsvertrag entscheiden. Als
einziger offenbart daraufhin der PDS-Abgeordnete Rainer Börner
seine Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit.
21. September: Durch Befehl 49/90 des Ministers
für Abrüstung und Verteidigung, Rainer Eppelmann, werden die
DDR-Grenztruppen mit Wirkung vom 30. September 1990 aufgelöst.
Allein die aus Angehörigen der Grenztruppen zum Abriss der
Mauer gebildeten Auflösungs- und Rekultivierungskommandos
sollen fortbestehen und diese Tätigkeit – ab 2. Oktober in
der Zuständigkeit des Bundesministers für Verteidigung – bis
zum 1. Dezember 1990 abschließen. 54.260 Schützenwaffen und
3.060 Tonnen Munition sollen zwischengelagert bzw. an die
Nationale Volksarmee übergeben werden.
|
Im Hinblick auf die Verwertung zehntausender
jetzt überflüssiger Uniformen und anderer Bekleidungsstücke
hatte sich Abrüstungsminister Rainer Eppelmann schon Tage
zuvor hilfesuchend an den Pariser Modeschöpfer Karl
Lagerfeld gewandt: "Ich halte es für nicht zu
verantworten, diese Werte einfach zu vernichten. Nun kam
mir der Gedanke, dass Sie sich diese Bestände einmal
anschauen, um dann zu beurteilen, ob Sie irgendeine
sinnvolle Verwendung haben", schrieb er Lagerfeld.
Doch der scheint mit diesem Modeansinnen überfordert
gewesen zu sein, eine Antwort aus Paris ist in den Akten
jedenfalls nicht überliefert. |
24. September: Der DDR Abrüstungs- und
Verteidigungsminister Rainer Eppelmann und der
Oberkommandierende der Warschauer Vertragsstaaten, Armeegeneral
Pjotr Luschew, unterzeichnen in Ost-Berlin ein Protokoll, in dem
der Austritt der DDR aus dem Warschauer Pakt erklärt wird.
In Bonn wird das "Gesetz über die Inkraftsetzung von
Vereinbarungen betreffend den befristeten Aufenthalt von
Streitkräften der Französischen Republik, der Union der
Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreichs
Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von
Amerika in Berlin und von sowjetischen Streitkräften auf dem in
Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet nach
Herstellung der deutschen Einheit" unterzeichnet. Damit
werden die Ablösung der alliierten Rechte, die befristeten
Truppenaufenthalte und die Berlin-Zuständigkeiten der Vier Mächte
konkret geregelt.
26. September: In einem Schreiben an
Bundeskanzler Helmut Kohl kritisiert der sowjetische Partei- und
Staatschef Michail Gorbatschow die beabsichtigten Prozesse gegen
SED-Partei- und Staatsfunktionäre wegen
"Landesverrat", "Verbrechen gegen die
Menschlichkeit" und wegen "subversiver Tätigkeit
zugunsten eines fremden Staates". Er bezeichnet das
Vorgehen gegen SED-Funktionäre als Verfolgung "im Geiste
eines primitiven Antikommunismus" und warnt Kohl davor,
seine ehemaligen Gegner zu zwingen, "den bitteren Kelch bis
zur Neige zu leeren." Kohl möge bedenken, dass die
Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrages in Moskau noch
ausstehe. Am Ende seines Briefes regt Gorbatschow an,
"einen Weg zu finden, um den Eifer derjenigen zu dämpfen,
die nicht abgeneigt sind, den ‚Kalten Krieg’ an der
innerdeutschen Front zu verlängern."
In Ost-Berlin findet die letzte Tagung des DDR-Ministerrates und
der letzte NVA-Wachaufzug vor der Neuen Wache Unter den Linden
statt.
27. September: In Berlin vereinigen sich die
SPD der Bundesrepublik und die DDR-SPD auf getrennten
Parteitagen zur gesamtdeutschen SPD.
28. September: Die letzte Tagung der
DDR-Volkskammer findet im Gebäude des früheren
SED-Zentralkomitees statt. Am Tage zuvor wurde der ursprüngliche
Tagungsort – der Palast der Republik – wegen
Asbestverseuchung geschlossen. In der Volkskammer kommt es noch
einmal zu heftigen Debatten über die Staatssicherheit. Der
Rostocker Pfarrer und Bürgerrechtler Joachim Gauck, Bündnis
90, wird schließlich zum "Sonderbeauftragten für die
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes" gewählt. Die
Bundesregierung sichert zu, dass Gauck auch nach der Vereinigung
als Verantwortlicher akzeptiert wird. Zuvor findet eine
geschlossene Sitzung statt, auf der Volkskammer-Abgeordnete,
darunter Bauminister Axel Viehweger (Bund Freier Demokraten),
als inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt
werden. Fünfzehn Volkskammer-Abgeordnete legen wegen ihrer
MfS-Zusammenarbeit ihr Mandat nieder.
Die Besetzer in der Normannenstraße sind mit dem Erreichten
zufrieden und beendeten ihre Aktion. In ihrer Schlusserklärung
heben die 23 Bürgerrechtler hervor: "Unsere Aktion sollte
ein Anstoß für alle BürgerInnen sein, zu jeder Zeit und an
jedem Ort durch außerparlamentarisches Treiben Einfluss auf das
Geschehen im Land zu nehmen."
29. September: Das Bundesverfassungsgericht
bestätigt zum Teil die Verfassungsklage der Republikaner, der
Grünen und der Linken Liste/PDS gegen das Wahlgesetz vom 3.
August 1990. Sie gibt den Klägern in dem Punkt Recht, dass das
Wahlgesetz mit der fünfprozentigen Sperrklausel und dem so
genannten "Huckepackverfahren" gegen den Grundsatz der
Wahlgleichheit verstößt. Das Gesetz muss überarbeitet und
korrigiert werden.
30. September: Die ersten Häftlinge, die unter
die am 28. September 1990 von der DDR-Volkskammer beschlossene
Teilamnestie fallen, werden freigelassen. In den Strafanstalten
war es zuvor zu Häftlingsrevolten gekommen. Mehrere tausend Häftlinge
fordern die Überprüfung ihrer Urteile. Nicht wenige Häftlinge
sitzen aufgrund fragwürdiger Aussagen und Ermittlungsmethoden
der Staatssicherheit im Gefängnis. Aufgrund der Teilamnestie
bekommen die Häftlinge ein Drittel ihrer Strafe erlassen.
Ausgenommen werden Schwerverbrecher.
Oktober 1990
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1. Oktober: Am Rande der
KSZE-Außenministerkonferenz in New York erklären die
vier Siegermächte die Aussetzung
("Suspendierung") ihrer Vorbehaltsrechte und
Verantwortlichkeiten für Berlin und Deutschland als
Ganzes.
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Auf dem 38. CDU-Parteitag in Hamburg treten die
CDU-Landesverbände der DDR der CDU Deutschlands bei. Helmut
Kohl erhält bei der Wahl des Parteivorsitzenden 98,5 Prozent
der Stimmen. Kanzlerberater Horst Teltschik vermerkt in seinem
Tagebuch: "Ein Traumergebnis! Der verdiente Lohn für eine
erfolgreiche Politik der Einigung. Niemand hat so instinktsicher
wie er die geschichtliche Chance genutzt und unbeirrt
verfolgt." Lothar de Maizière wird mit 97 Prozent der
Stimmen zum Stellvertreter Kohls gewählt.
2. Oktober: In Ost-Berlin löst sich die
DDR-Volkskammer mit einer Festveranstaltung auf. Die Ständige
Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin und die der DDR in
Bonn stellen ihre Tätigkeit ein. Die diplomatischen Beziehungen
der DDR mit 135 Staaten und "Befreiungsorganisationen"
enden. Die Nationale Volksarmee der DDR wird aufgelöst. Die
nicht entlassenen Offiziere und Soldaten unterstehen nun
Bundesverteidigungsminister Gerhard Stoltenberg. Die Berliner
Stadtkommandanten der drei Westmächte gratulieren in einem
gemeinsamen Schreiben an den Regierenden Bürgermeister Walter
Momper den Bürgern Berlins zum Beginn einer neuen Ära und erklären
ihre Aufgabe um Mitternacht für erfüllt und beendet.
Der amerikanische Präsident George Bush richtet anlässlich
der bevorstehenden Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine
Botschaft an das deutsche Volk: "Heute tritt die deutsche
Nation in ein neues Zeitalter ein. Ein Zeitalter, um die Worte
Ihrer Nationalhymne zu zitieren, von ‚Einigkeit und Recht und
Freiheit’. Während wir in diesem feierlichen Augenblick
gemeinsam mit Ihnen voller Hoffnung und Zuversicht in die
Zukunft blicken, möchte ich im Namen aller Amerikaner sagen: Möge
Gott das deutsche Volk schützen."
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Um 21.00 Uhr beginnt im Schauspielhaus in
Berlin der Festakt zur Vereinigung ("Fest der
Einheit"). Zu den Gästen zählen Bundespräsident
Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl.
Unter der Leitung von Kurt Masur erklingt die 9. Symphonie
von Ludwig van Beethoven. Ministerpräsident Lothar de
Maizière und Bundeskanzler Helmut Kohl wenden sich über
Rundfunk und Fernsehen an die Bevölkerung. |
Soziale Unsicherheit, neue Lebensumstände und
Rechtsgrundlagen vermitteln vielen DDR-Bürgern das Gefühl,
dass sie einer schwierigen Zeit entgegengehen. Zugleich
empfinden viele, dass die Vereinigung überstürzt herbeigeführt
wurde.
3. Oktober: Um Mitternacht wird der Beitritt
der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes wirksam. Die
offizielle Feier mit Feuerwerk findet im Beisein der höchsten
Vertreter der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR sowie
Hunderttausender Menschen vor dem Berliner Reichstag statt.
Unter den Klängen der Nationalhymne wird um 0.00 Uhr die
Bundesflagge gehisst. Die Bundesrepublik zählt nun insgesamt
78,7 Millionen Einwohner. Das Staatsgebiet hat sich um rund
108.000 auf 357.000 Quadratkilometer vergrößert.
Auch Berlin ist wieder vereint. Das Besatzungsstatut ist
erloschen. In beiden Teilen der Stadt besteht nach dem 1.
Mantelgesetz vom 25. September 1990 weitgehende Rechtseinheit.
Bis zu den Wahlen am 2. Dezember 1990 wird die Stadt von Senat
und Magistrat gemeinsam regiert. Bundeskanzler Helmut Kohl
richtet zum Tag der Einheit eine Botschaft an alle Regierungen
der Welt, mit denen das vereinte Deutschland diplomatische
Beziehungen unterhält.
In der Berliner Philharmonie findet auf Anordnung von Bundespräsident
Richard von Weizsäcker ein Staatsakt statt. Die Eröffnungsrede
hält die ehemalige Präsidentin der DDR-Volkskammer Sabine
Bergmann-Pohl. Es folgen Ansprachen der Bundestagspräsidentin,
des Regierenden Bürgermeisters von Berlin und des Bundespräsidenten.
4. Oktober: Im Berliner Reichstagsgebäude
konstituieren sich Bundestag und DDR-Volkskammer zum
gesamtdeutschen Bundestag. Fünf Minister der ehemaligen
DDR-Regierung werden als "Minister für besondere
Aufgaben" (Lothar de Maizière, Sabine Bergmann-Pohl, Günther
Krause/alle CDU, Rainer Ortleb/FDP und Hansjoachim Walther/DSU)
vereidigt und in die Bundesregierung aufgenommen.
Bundeskanzler Helmut Kohl gibt eine Erklärung zu den Grundsätzen
der Politik der ersten gesamtdeutschen Regierung ab. Er begründet
dabei noch einmal das eingeschlagene Tempo der Vereinigung und
gibt zu bedenken: "Die Wahrheit ist – dies muss
angesprochen werden -, dass wir, wenn wir die Währungs-,
Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli nicht eingeführt hätten,
bis zum heutigen Tag ungefähr eine Million Übersiedler aus der
DDR in der Bundesrepublik gehabt hätten und dass diese
Entwicklung zu katastrophalen Verwerfungen in der Gesellschaft
der Bundesrepublik wie in jener DDR geführt hätte."
5. Oktober: Im Bundestag wird über eine überarbeitete
Fassung des Wahlgesetzes abgestimmt. Es sieht nunmehr vor, dass
die Fünf-Prozent-Klausel nun in getrennten Wahlgebieten (altes
und neues Bundesgebiet) gilt; in den neuen Bundesländern
besteht zudem die Möglichkeit der Listenvereinigung für
Parteien und andere politische Vereinigungen. Das überarbeitete
Wahlgesetz wird angenommen. Am 8. Oktober stimmt auch der
Bundesrat dem Wahlgesetz zu. Darüber hinaus billigt der
Bundesrat auch den Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September
1990.
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12. Oktober: Die
Bundesregierung und die Regierung der Sowjetunion schließen
ein "Abkommen über einige überleitende Maßnahmen"
ab. Darin werden unter anderem die Aufenthaltskosten der
sowjetischen Truppen in Deutschland, finanzielle Hilfen für
den Truppenabzug, die Unterstützung des Wohnungsbaus in
der Sowjetunion, Hilfen bei Ausbildung und Umschulungen,
Auszahlungsmodalitäten, der Umgang mit sowjetischen
Liegenschaften in Deutschland und die Einstellung der
Uranproduktion geregelt. Drei Tage später, am 12.
Oktober, folgt der "Vertrag über die Bedingungen des
befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen
Abzugs der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der
Bundesrepublik Deutschland." |
Attentat auf Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble während
einer Wahlkampfveranstaltung im südbadischen Oppenau: Die durch
die Schüsse herbeigeführten lebensgefährlichen Verletzungen
haben eine Querschnittslähmung des Ministers zur Folge. Es ist
das zweite Attentat auf einen bundesdeutschen Politiker binnen
eines Jahres. Am 25. April 1990 war SPD-Kanzlerkandidat Oskar
Lafontaine durch Messerstiche schwer verletzt worden.
14. Oktober: Nach gut vier Jahrzehnten finden
in den fünf neuen Bundesländern die ersten freien
Landtagswahlen statt. Die CDU stellt in Mecklenburg-Vorpommern,
Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, die SPD in Brandenburg
die stärkste Fraktion.
19. Oktober: Wegen des Verdachts unrechtmäßiger
Geldtransfers durchsucht die Polizei in Berlin die Räume der
PDS-Zentrale. Am 22. Oktober lässt die Treuhandanstalt Konten
der PDS in Oslo und Utrecht sperren, auf die allein im September
und Oktober 1990 107 Millionen DM geflossen sind. Am 26. Oktober
wird PDS-Schatzmeister Wolfgang Pohl verhaftet. Am Tag darauf
stellt der Parteivorsitzende Gregor Gysi im PDS-Parteivorstand
die Vertrauensfrage. Gysi wird im Amt bestätigt. Der
Parteivorstand fasst den Beschluss, dass sich die PDS von dem
Teil ihres Vermögens trennt, das nicht unbedingt für die
politische Arbeit und zur Erfüllung der Verpflichtungen benötigt
wird.
23.-28. Oktober: In den nach den Wahlen vom 14.
Oktober gebildeten neuen Bundesländern konstituieren sich die
Landtage.
27. Oktober: Der Chef der Treuhandanstalt,
Detlev Rohwedder, stellt in Aussicht, dass bis zum Jahresende
500 der insgesamt 8.000 ehemals volkseigenen Betriebe verkauft
sein werden. Seit dem Beginn seiner Amtszeit am 20. August sind
für rund 200 Betriebe private Anteilseigner gefunden worden.
Inzwischen sei auch das ausländische Interesse an den
ehemaligen DDR-Betrieben gewachsen. Aus den USA, Frankreich und
Japan lägen zahlreiche Anfragen von Unternehmen und Banken vor.
Die Treuhandanstalt, so Rohwedder, stehe vor einer "Aufgabe
von nahezu furchterregender Dimension". Er beklagt die
"äußerst zähe Symbiose" bundesdeutscher Unternehmer
und Manager mit den vielfach noch alten DDR-Betriebsleitungen.
31. Oktober: Mit dem Inkrafttreten des
Einigungsvertrages hat das Bundesministerium für Verteidigung
den Auftrag erhalten, den Abriss der Mauer fortzusetzen. Die
Leitung dafür wie für die Auflösung der Grenztruppen ist
Oberst Rolf Ocken übertragen. Etwa 3.000 Soldaten und
Zivilbeschäftigte der DDR-Grenztruppen werden für den vollständigen
Abbau der Grenzanlagen an den innerdeutschen und Berliner
Grenzen und die Rekultivierung der beräumten Flächen in eine
"Organisation zum Abbau der Sperranlagen im beigetretenen
Teil Deutschlands" übernommen.
In der zweiten Oktoberhälfte werden alle für den Abriss verfügbaren
Kräfte (auch von der innerdeutschen Grenze) auf das Berliner
Stadtgebiet konzentriert. Die Mauer soll, so die Zielstellung
von Oberst Rolf Ocken, in den bewohnten Gebieten bis zum 30.
November und im Stadtgebiet bis Ende Dezember komplett beseitigt
sein. Ende Oktober sind 75,3 Prozent der Grenzmauer (24,4 von
32,4 km) und 57 Prozent der Hinterlandmauer (21,2 von 37,2 km)
beräumt.
November 1990
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Anfang November: Im innerstädtischen
Bereich von Berlin ist die Mauer weitgehend aus dem
Stadtbild verschwunden; Ende des Monats wird in
Berlin-Pankow in Anwesenheit von Bundeswehrgeneral Hasso
von Uslar und von lokaler Politprominenz der Abriss des
letzten innerstädtischen Mauerabschnitts in Angriff
genommen. |
Nur wenige hundert Meter sind unter Denkmalschutz gestellt
worden und heute noch zu besichtigen; nur drei der einstmals über
100 Wachtürme bleiben im innerstädtischen Bereich erhalten.
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9. November: In Berlin
konstituieren die Vertreter aller 16 Bundesländer am
Jahrestag des Mauerfalls den ersten gesamtdeutschen
Bundesrat. Zuletzt hatte der Bundesrat 1959 in Berlin
getagt. |
9./10. November: Staatsbesuch des
sowjetischen Partei- und Staatschefs Michail Gorbatschow in der
Bundesrepublik. Es wird der im September paraphierte
deutsch-sowjetische Grundlagenvertrag unterzeichnet. Zudem
schließen Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl Abkommen über die
Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der
Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft, Technik sowie des Arbeits-
und Sozialwesens ab.
Zum Grundlagenvertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft
und Zusammenarbeit erklärt Bundeskanzler Kohl, dass damit beide
Staaten einen Schlussstrich unter die leidvollen Kapitel der
Vergangenheit gezogen hätten und nun der Weg für einen
Neubeginn frei sei.
Gorbatschow stimmt dem Kanzler zu: "Indem wir dieses
Dokument, an welches man noch vor kurzem kaum zu denken wagte,
mit unseren Unterschriften versehen haben, haben wir offiziell
einen Schlussstrich unter den ganzen geschichtlichen Prozess
gezogen und eine für uns gemeinsame, in die Tiefe gehende
Perspektive aufgezeichnet."
10. November: Als Konsequenz aus den
illegalen Geldtransfers verzichtet der PDS-Vorstand – auch im
Hinblick auf die unmittelbar bevorstehenden gesamtdeutschen
Wahlen – auf 80 Prozent des SED-Parteivermögens. Ausdrücklich
wird betont, dass keine Auslandsgelder mehr vorhanden seien bzw.
sich solche nicht mehr unter der Kontrolle der PDS befänden.
14. November: In Warschau unterzeichnen die
Außenminister der Bundesrepublik und der Republik Polen einen
Vertrag, der den Grenzverlauf zwischen beiden Staaten bestätigt.
Beide Vertragsparteien verzichten auf jegliche Gebietsansprüche
und erklären, "dass die zwischen ihnen bestehende Grenze
jetzt und in Zukunft unverletzlich ist und verpflichten sich
gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer Souveränität
und territorialen Integrität."
17. November: In Wien werden die
Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen
(VSBM) mit der Verabschiedung des "Wiener Dokuments
90" beendet. Die teilnehmenden Staaten vereinbaren den jährlichen
Austausch militärischer Informationen, die Zusammenarbeit bei
gefährlichen militärischen Zwischenfällen, Kontakte
verschiedener Art untereinander, die Beobachtung militärischer
Aktivitäten, Inspektionen und weitere Maßnahmen zur
Verhinderung militärischer Konflikte und Verminderung von
Risiken.
19.-21. November: In Paris unterzeichnen die
Staats- und Regierungschefs der NATO und der Warschauer
Vertragsorganisation die "Gemeinsame Erklärung von 22
Staaten". Darin heben sie feierlich hervor, dass sie
"in dem anbrechenden neuen Zeitalter europäischer
Beziehungen nicht mehr Gegner sind, sondern neue Partnerschaften
aufbauen wollen."
Zugleich findet in Paris das Gipfeltreffen der 34
KSZE-Staaten statt. Es wird die "Charta von Paris für ein
neues Europa" verabschiedet. Der erste umfassende Abrüstungsvertrag
der europäischen Nachkriegsgeschichte wird unterzeichnet. Der
Kalte Krieg wird für beendet erklärt.
Dezember 1990
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1. Dezember: Nachdem die
Mauer im Berliner Stadtgebiet fast vollständig
verschwunden ist, werden die Abrissarbeiten am Außenring,
der jetzt die Grenze zwischen den beiden Ländern Berlin
und Brandenburg bildet, fortgesetzt und erst in der
zweiten Jahreshälfte 1992 abgeschlossen.
An der Berlin-Brandenburgischen Grenze ist der Abriss nahezu
komplett, es bleiben nur einzelne Mauersegmente und unter
anderem einige hundert Meter Streckmetallgitterzaun, vier Führungsstellen,
mehrere Dutzend Bogenlampen und einige Kilometer Kolonnenweg
erhalten.
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Insgesamt sollen beim Abbau der Berliner Grenzsicherungsanlagen
180.000 Tonnen Beton, 6.000 Tonnen Schrott, 15.000 Tonnen
Asbest, 3.000 Tonnen Kunststoffe sowie 100 Tonnen Holz, Dämmstoffe
u.a. an Abrissmaterialien angefallen sein.
Die Grenzmauer wird mit Hilfe von Schreddern zertrümmert,
die nur 20 Sekunden benötigen, um ein Mauersegment in
Schotterstücke zu zerkleinern. Die geschredderte Mauer findet
als Unterbau für neue Wege und Straßen Verwendung.
Gegen den 78jährigen ehemaligen DDR-Staats- und Parteichef
Erich Honecker wird am 1. Dezember Haftbefehl erlassen.
Aktenfunde in DDR-Archiven belegen, dass Honecker für den Schießbefehl
an der Berliner Mauer und an der innerdeutschen Grenze
verantwortlich war. Honecker befindet sich zu diesem Zeitpunkt
in sowjetischer Obhut im Militärhospiz Beelitz bei Berlin.
Wenig später wird er zusammen mit seiner Frau Margot bei Nacht
und Nebel nach Moskau ausgeflogen.
2. Dezember: Im vereinten Deutschland finden
die ersten freien gesamtdeutschen Wahlen seit 1933 statt. Die
CDU/CSU erreicht fast 44 Prozent der Wählerstimmen. Die SPD
kommt landesweit nur auf 33,5 Prozent und die FDP 11 Prozent.
Aufgrund der getrennten Fünf-Prozent-Klausel schaffen die PDS
mit 11 Prozent und das Bündnis 90/Grüne mit 6 Prozent der
Stimmen in den neuen Bundesländern den Einzug in den Bundestag,
obwohl die Grünen in den alten Bundesländern mit 4,8 Prozent
und die PDS mit 2,4 Prozent an der Sperrklausel scheitern.
15. Dezember: Zum letzten Mal wird die
"Aktuelle Kamera", die Nachrichtensendung des
DDR-Fernsehens, ausgestrahlt. Die Frequenzen des DDR-Fernsehens
gehen an die ARD über.
19. Dezember: Wegen der Vorwürfe, er habe
als inoffizieller Mitarbeiter für die Staatssicherheit
(Deckname "Czerni") gearbeitet, erklärt der ehemalige
Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, seinen Rücktritt
als Bundesminister für besondere Aufgaben.
20. Dezember: Im Berliner Reichstagsgebäude
konstituiert sich das erste frei gewählte gesamtdeutsche
Parlament seit 1933. Alterspräsident des 12. Deutschen
Bundestages ist der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt.
31. Dezember: In seiner Ansprache zum
Jahreswechsel führt Bundeskanzler Helmut Kohl aus: "Liebe
Landsleute! Das Jahr 1990 wird uns als eines der glücklichsten
in der deutschen Geschichte in Erinnerung bleiben. In freier
Selbstbestimmung haben wir Deutschen die staatliche Einheit
unseres Vaterlandes vollenden können – ohne Gewalt und
Blutvergießen, in vollem Einvernehmen mit allen unseren
Nachbarn.
Ein Traum ist in Erfüllung gegangen. Wer hätte vor einem
Jahr gedacht, dass wir heute in einem vereinten Deutschland den
Silvesterabend gemeinsam feiern können? Wir haben allen Grund,
uns darüber von Herzen zu freuen."
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